Von news.de-Redakteur Jan Grundmann - Uhr

Letztes Tabu: Das deutsche Inzestverbot wackelt

Blutsverwandte, die Analverkehr haben, gehen straffrei aus. Haben sie Vaginalsex, müssen sie in den Knast - so wie Patrick S. Er klagt vor dem EU-Gerichtshof für Menschenrechte gegen das Inzestverbot. Die verbotene Liebe könnte deshalb bald legal sein.

Patrick S. und seine Schwester - eine verbotene Liebe. (Foto) Suche
Patrick S. und seine Schwester - eine verbotene Liebe. Bild: dpa

In Frankreich oder Spanien können blutsverwandte Geschwister offen zu Sex und Liebe stehen, ohne Strafe fürchten zu müssen. In Deutschland dagegen wartet das Gefängnis: Bis zu zwei Jahre, so steht es im Paragraph 173 des Strafgesetzbuches. Noch, denn das könnte sich bald ändern.

Am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg liegt die Beschwerdeschrift von Patrick S., wegen unverhältnismäßigen Eingriffs der deutschen Richter in sein Privat- und Familienleben. Der heute 34-Jährige wuchs unter schwierigen Familienverhältnissen auf, lernte seine Schwester Susan erst spät kennen. Nachdem die Mutter verstarb, verliebten sich die beiden, hatten ab 2001 miteinander einvernehmlich Sex - und schließlich vier Kinder. Die Geschichte ihrer verbotenen Liebe können Sie in unserer Fotostrecke nachlesen.

«Wir fordern eine Rehabilitation»

Dafür mussten sie einen hohen Preis zahlen: Die Kinder wurden ihnen weggenommen und wuchsen in Pflegefamilien auf. Patrick S. wanderte ins Gefängnis. Sein Anwalt, Endrik Wilhelm, zieht für den Leipziger seit Jahren gegen den Inzest-Paragraphen in den juristischen Krieg mit der Bundesrepublik. Erst vor das Bundesverfassungsgericht, dessen Richter 2008 mehrheitlich für die Beibehaltung des Inzestverbots votierten. Deshalb klagt Wilhelm für seinen Mandanten nun vor dem EU-Menschengerichtshof.

«Man kann die bereits abgesessene Haftstrafe nicht rückgängig machen», sagt Wilhelm. «Wir wollen aber eine Entschädigung, wir fordern eine Rehabilitation.» Schließlich gehe es um eine geschlechtliche Beziehung zweier erwachsener Geschwister - auf freiwilliger Grundlage. Momentan sei noch nicht abzusehen, wann die Straßburger Richter urteilen werden, eine Entscheidung in diesem Jahr sei aber wahrscheinlich, so Wilhelm.

In vielen Nachbarländern ist Inzest straffrei

Fällt die Entscheidung zugunsten Patrick S. aus, hätte der Europäische Gerichtshof zwei Möglichkeiten, sagt Anwalt Wilhelm. Entweder werde der Einzelfall als menschenrechtswidrig gerügt. Dann würde der Prozess gegen Patrick S. neu aufgerollt.

Zweite Möglichkeit: «Die gesamte Vorschrift wird als menschenrechtswidrig gewertet», so Wilhelm. Dann könnte das Inzestverbot fallen. «Ich glaube, dass die Vorschrift in ihrer bisherigen Form keine Chance mehr hätte, weil der Druck auf die Gesetzgebung wachsen würde.» Denn rings um Deutschland gibt es viele Länder, die Inzest nicht bestrafen. In Frankreich bereits seit 1810, auch in den Niederlanden, Portugal oder Spanien ist Inzest straffrei.

Analsex ist in Ordnung, bei Vaginalsex droht Knast

Dabei sei die Begründung der deutschen Verfassungsrichter für die Beibehaltung des Inzestverbots verdammt inkonsequent, findet Anwalt Wilhelm. «Das ist doch einfach nur grotesk, wie die Richter argumentiert haben», findet er. Etwa, weil nur das Eindringen des Penis in den Scheidenvorhof als Straftatbestand gewertet werde.

«In der Begründung heißt es sinngemäß: Wir dürfen den Geschwistern den Vaginalverkehr verbieten, weil ja Anal- oder Oralverkehr nicht unter Strafe gestellt sind», so Wilhelm. Ebenfalls inkonsequent aus seiner Sicht: Eine künstliche Befruchtung zwischen Geschwistern wäre ebenfalls in Ordnung. Und verlieben sich adoptierte, also nicht leibliche Geschwister ineinander, hätten sie ebenfalls nichts zu befürchten. Genauso wenig wie homosexuelle, sich liebende Blutsverwandte.

Zeugungsverbot für Behinderte und Frauen ab 40?

Vor allem stört sich der Anwalt am Argument, Kinder von Blutsverwandten hätten ein erhöhtes Risiko für genetisch bedingte Erkrankungen. «Wollen wir, weil Behinderungsrisiken entstehen können, Menschen die Fortpflanzung verbieten?», fragt Wilhelm.

Wenn das tatsächlich der Wunsch des Gesetzgebers sei, müsste auch das Zeugungsverbot konsequent ausgeweitet werden, so der Dresdner Anwalt. «Die Fortpflanzung müsste nicht nur von Blutsverwandten, sondern auch von behinderten Menschen oder Frauen ab 40 Jahren unter einen Erlaubnisvorbehalt gestellt werden.» Das wäre wie ein Schutz der Volksgesundheit - also die Ideologie des Nazi-Regimes. Mit dieser Ansicht steht der Anwalt nicht allein: Auch Betroffeneninitiativen und die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik hatten nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts 2008 erbitterten Widerstand gegen das Argument der Volksgesundheit geleistet.

Anwalt: Richter haben eine Familie zerstört

Anwalt Wilhelm plädiert deshalb für eine Enttabuisierung des Inzests: «Es passiert viel öfter, als man denkt: Menschen, die nicht mit ihren Geschwistern aufgewachsen sind, treffen irgendwann aufeinander, verlieben sich.» Wilhelm habe mit vielen Betroffenen gesprochen: «Die Menschen trauen sich nicht in die Öffentlichkeit, sie werden stigmatisiert.» Patrick S. hat sich sogar, angeblich auf Anraten eines Richters, sterilisieren lassen.

Das Inzestverbot diene doch auch dem Schutz der Familie, argumentierten hingegen die Verfassungsrichter. Soziale und psychologische Schäden könnten so vermieden werden. Doch erreicht worden sei damit im Fall von Patrick und Susan das ganze Gegenteil, so Anwalt Wilhelm. «Genau genommen hat erst die Liebe zwischen den Geschwistern dazu geführt, dass eine neue Familie begründet wurde.»

Die Strafe habe, argumentiert Wilhelm, einzig eine Familie auseinander gerissen, ohne jemandem zu helfen. Denn nach dem Urteil des Verfassungsgerichts trennte sich das Paar. Die Kinder blieben in ihren jeweiligen Pflegefamilien. Und Patrick S. saß noch ein weiteres Jahr im Knast. Weil er in einem Land lebt, in dem seine Form der Liebe verboten ist.

knr/ivb/news.de