Von news.de-Redakteurin Anika Kreller - Uhr

Immunität: Narrenfreiheit für Politiker?

Viele Staatschefs genießen Straffreiheit. Auch in Deutschland erhalten die Politiker besonderen Schutz. Woher kommt dieser Sonderstatus? Und warum wurde er nach all den Skandalen, etwa um Berlusconi oder Chirac, noch nicht abgeschafft?

Das italienische Verfassungsgericht hat das Immunitätsgesetz von Ministerpräsident Berlusconi inzwischen wieder kassiert. (Foto) Suche
Das italienische Verfassungsgericht hat das Immunitätsgesetz von Ministerpräsident Berlusconi inzwischen wieder kassiert. Bild: dpa

Sex mit einer Minderjährigen, Steuerbetrug, Korruption, Amtsmissbrauch – die Liste der Vorwürfe ist lang. Doch wurde Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi lange für keines dieser mutmaßlichen Vergehen verfolgt. Ein von seiner Regierung erlassenes Gesetz verlieh ihm Immunität. Auch Frankreichs Ex-Präsident Jacques Chirac muss sich erst jetzt für einen Korruptionsskandal aus den 1990er Jahren verantworten. Bis 2007 war er Staatschef und als solcher von der Justiz unantastbar.

In vielen Ländern genießen die Staatsoberhäupter das Sonderrecht der Immunität: In Finnland und Italien darf der Präsident zumindest für Amtshandlungen nicht strafrechtlich verfolgt werden. Der griechische Präsident kann während seiner Amtszeit grundsätzlich nicht belangt werden. In Irland und Portugal dürfen die Präsidenten nur gerichtlich verfolgt werden, wenn das Parlament zustimmt.

Und in Deutschland? Genießt Bundespräsident Christian Wulff besonderen Schutz, sollte er straffällig werden? Und wie sieht es mit Angela Merkel aus? Hierzulande kennt die Verfassung weder für Staats- noch Regierungschef eine Sonderregelung. Stattdessen gilt für sie das Gleiche wie für alle Abgeordneten: Jedes Mitglied des Bundestages, der Landtage sowie der Bundespräsident genießen Immunität - der Bundeskanzler wird in Deutschland aus dem Bundestag gewählt und ist immer auch Parlamentarier. Das heißt: «Ein Abgeordneter darf nur mit der Genehmigung des Bundestages strafrechtlich verfolgt und verhaftet werden», erklärt Thomas Strobl, Vorsitzender des Immunitätsausschusses im Bundestag.

Wenn Merkel also eine Straftat begeht, bleibt das ohne rechtliche Konsequenzen, solange das Parlament kein grünes Licht für die Strafverfolgung gibt. Auch Durchsuchungen und Beschlagnahmen wären nicht möglich. Die Immunität erlischt, sobald die Politiker aus dem Bundestag ausscheiden. So könnten Karl-Theodor zu Guttenberg nach seinem Rücktritt strafrechtliche Konsequenzen in der Plagiatsaffäre drohen. Andersherum gilt jedoch auch: Übernimmt jemand ein Abgeordnetenmandat, werden jegliche Strafverfahren oder angeordnete Freiheitsstrafen ausgesetzt.

Historisch begründete Sonderstellung

Die im Grundgesetz verankerte Sonderstellung der Politiker hat historische Gründe. «In der Geschichte wurde die Strafverfolgung regelmäßig eingesetzt, um politische Gegner aus dem Feld zu räumen», sagt der Verfassungsrechtler Heinrich Amadeus Wolff von der Europa-Universität Viadrina in Franfurt/Oder. Zum Beispiel hätten die Nationalsozialisten SPD-Politiker einfach verhaften lassen. «Die Immunität schützt das Parlament», sagt Wolff. «Abgeordnete dürfen nicht ohne Weiteres von Strafverfolgungsbehörden abgeholt und so zum Beispiel von einer Abstimmung ausgeschlossen werden.» Die Immunität soll so die Arbeitsfähigkeit des Parlaments sichern.

Aus dem gleichen Grund genießen die Staatsoberhäupter vieler Länder Straffreiheit: «Es geht immer darum, dass man nicht etwas fingiert, um sie aus politischen Gründen an der Ausübung des Amtes zu hindern», sagt Wolff. «Man bräuchte nur einen Vergewaltigungsstrafbestand erfinden und schon ist der Präsident weg vom Amt.»

Es gibt auch Ausnahmen von der Straffreiheit: Wird ein Politiker auf frischer Tat ertappt, kann er durchaus festgenommen werden. Bei Verkehrsdelikten solle die Genehmigung für eine Strafverfolgung grundsätzlich erteilt werden, empfiehlt zudem die Geschäftsordnung des Bundestages – wohl auch, um Verhältnissen vorzubeugen, wie sie sich unter einigen Diplomaten breit gemacht haben: Von diplomatischer Immunität geschützt, wird mit Vorliebe falsch geparkt, gerast oder rote Ampeln werden ignoriert.

Diskussion um Abschaffung

Heutzutage scheint die Gefahr einer politisch motivierten Strafverfolgung in Deutschland gering. Immer wieder wird daher auch darüber diskutiert, Politikern das Sonderrecht der Immunität zu streichen. So forderte die FDP 2006, Abgeordnete «wie normale Bürger» zu behandeln. 2009 wollte die Thüringer CDU die Immunität der Landtagsabgeordneten abschaffen. Doch die Initiativen blieben folgenlos. «Eine Änderung des Grundgesetzes wird derzeit nicht erwogen», sagt Thomas Strobl vom Immunitätsausschuss. Sie habe schließlich auch vorbeugende Wirkung: «Wenn die Demokratie in schweres Fahrwasser gerät, ist der Immunitätsschutz für das Parlament plötzlich von großer Bedeutung», sagt Strobl.

Auch Verfassungsrechtler Wolff plädiert dafür, das Prinzip der Immunität beizubehalten. «Es ist für die Demokratie eine enorm wichtige Sache, dass die Abgeordneten nicht aus irgendwelchen politischen Gründen weggeschlossen werden können.» Eben weil Deutschland ein gefestigter Rechtsstaat sei, könne die Immunität bestehen bleiben, denn sie werde «ganz verantwortungsvoll» gehandhabt. «Der deutsche Bundestag macht seriösen Gebrauch davon und hebt in den meisten Fällen die Immunität auf», sagt Wolff.

Ein solcher Fall war der des SPD-Politikers Jörg Tauss. Als er in Verdacht geriet, Kinderpornos besessen zu haben, beendete der Bundestag die Immunität des Abgeordneten, damit Anklage gegen ihn erhoben werden konnte. Genaue Kriterien für die Aufhebung gibt es jedoch nicht. Der Ausschuss achte darauf, «dass das Vorgehen der Staatsanwaltschaften in jedem Fall von sachfremden und willkürlichen Methoden frei ist», sagt Strobl. Der Bundestag erteile aber in der Regel die Genehmigung für eine Anklage oder Durchsuchung, um die Abgeordneten «im Falle eines Strafverfahrens oder anderer Zwangsmaßnahmen nicht anders als die übrigen Bürger zu behandeln.»

Der Justiz ein Schnippchen schlagen

Dafür soll auch ein Zusatz sorgen, den der Bundestag zu Beginn jeder Wahlperiode verabschiedet: Demnach dürfen Ermittlungen gegen Abgeordnete jeder Zeit begonnen werden, solange der Bundestag nicht innerhalb von 48 Stunden Einwände dagegen erhebt.

Dass deutsche Politiker der Justiz ein Schnippchen schlagen können wie Berlusconi, ist also unwahrscheinlich. Und auch der italienische Regierungschef muss sich am Ende nun doch für seine Taten verantworten: Das Verfassungsgericht kippte Anfang des Jahres das von Berlusconi erlassene Immunitätsgesetz. Denn seine Straffreiheit war keineswegs in der Verfassung festgeschrieben, sondern der Cavaliere verlieh sie sich kurzerhand selbst.

Auch in Deutschland würde so ein Gesetz kaum Bestand haben, glaubt Verfassungsrechtler Wolff: «Das nimmt bestimmte Personen aus der Strafbarkeit heraus und verletzt so den Gleichheitsgrundsatz.» Die Immunität deutscher Abgeordneter dagegen sei ein in der Verfassung festgeschriebenes und durch sie klar umrissenes parlamentarisches Prinzip. Die Narrenfreiheit hat ihre Grenzen.

che/news.de

Bleiben Sie dran!

Wollen Sie wissen, wie das Thema weitergeht? Wir informieren Sie gerne.