Von news.de-Redakteur Sven Wiebeck - Uhr

Roger Willemsen: «Charlotte Roche ist eine Extremistin»

Er ist mit Charlotte Roche befreundet und selbst Schriftsteller: Roger Willemsen. Im news.de-Interview verrät er, warum Monogamie und ehelicher Sex heutzutage ein Tabu darstellen und warum er dankbar für seine umstrittene Freundin ist.

Roger Willemsen ist Publizist, Fernsehmoderator und mit Charlotte Roche befreundet. (Foto) Suche
Roger Willemsen ist Publizist, Fernsehmoderator und mit Charlotte Roche befreundet. Bild: dpa/Montage

Hinsichtlich Charlotte Roches Feuchtgebiete trat Publizist und Fernsehmoderator den news.de-Redakteuren Sven Wiebeck und Cord Krüger verraten.

Herr Willemsen, wie erklären Sie sich, dass es mehr als 40 Jahre nach der sexuellen Revolution für die Menschen so überaus interessant ist, derart über den Sex anderer zu lesen? Gerade über den von Frauen?

Roger Willemsen: Die sexuelle Revolution hat inzwischen ihre Kinder gefressen und eine Zweiteilung hinterlassen: Pornografie im Internet, auf Handy-Displays, im Ghetto des Heimlichen und grenzenlose Prüderie im Fernsehen, im Film et cetera. Die Antwort sind Bücher, die in der Sexualität wieder einen Gegenstand der Reflexion erkennen und diese Teilung nicht akzeptieren.

Wie kann es sein, dass man heute Monogamie und ehelichen Sex zum Tabu stilisiert?

Willemsen: Von allen männlichen Tieren in der freien Natur sind fünf Prozent monogam. Sie sind also in der Tierwelt die Mormonen. Auf der anderen Seite ist Kindern Weniges so peinlich, wie wenn Eltern über Sex reden. Da wir in einer Jugendkultur leben also ein guter Grund, den ehelichen Sex für sprachlos, für unbeschreiblich zu erklären. Also haben Monogamie und ehelicher Sex gute Gründe, tabu zu sein.

Sie sind selbst auch Schriftsteller. Kann das Schreiben eines Buches tatsächlich der Therapie dienen? Andere sprechen über ihre Probleme und Komplexe lediglich mit ihrem Therapeuten. Warum wählt jemand die Ausdrucksform des Buches, verbunden mit einer derartigen Preisgabe seiner selbst?

Willemsen: Charlotte treibt es ja noch ärger: Sie schreibt auch noch über ihre Therapie! Schreiben stellt vor allem Genauigkeit her, und etwas genau zu wissen, es genau zu sagen, das bannt die Gespenster. Insofern hat das Schreiben auch eine therapeutische Funktion, aber darin erschöpft es sich nicht.

Warum setzt man sich als Autor bewusst der Gefahr aus, mit seiner Romanfigur verwechselt zu werden? Gerade wenn man solch schlechte Erfahrungen mit der Presse gemacht hat wie Charlotte Roche?

Willemsen: Charlotte bringt eine wunderbare Eigenschaft für innere Unabhängigkeit mit: Ihr ist ihr öffentliches Bild ziemlich gleichgültig, und zwar nicht als Attitüde, sondern wirklich. Das wirkt in einer Image versessenen Zeit befremdlich, ist aber für uns alle ein Gewinn. Hier schreibt eine, die nichts zu verlieren hat. Ihr Leben ist ihr Material, und das auch, wenn sich die Boulevardpresse dieses Materials schon mal bemächtigt hatte.

Kann man eigentlich Kritik am Voyeurismus üben, ohne sich dessen Mechanismen selbst zu bedienen? Wie viel muss ein Schriftsteller von seiner eigenen Privatsphäre preisgeben, um die übertriebene Sensationslust anzuprangern?

Willemsen: Hätte Charlotte die Sensationslust bedienen wollen, sie hätte den zahllosen früheren Interview-Anfragen folgen müssen. Nein, sie erzählt zu ihren Bedingungen, auf ihrem Raum über etwas, das schockhaft war. Zugleich sucht sie daran etwas Verallgemeinerbares. Deshalb hat es seinen Platz zu Recht im Buch und nicht in der Zeitung.

Womit kann man als Autor eigentlich noch ein literarisches Tabu brechen, wenn man derart die Grenzen zwischen sich und der fiktiven Figur verwischt?

Willemsen: Charlotte ist eine Extremistin. So lebt sie, so fühlt sie. Was als Tabubruch erscheint, ist außen einer, nicht in ihrer eigenen Welt, und ich nehme an, es wäre ihr lieber gewesen, für dieses Buch nicht auch noch eine bekannte öffentliche Person zu sein. Sie hätte sich bestimmt ganz gern auf das rein Literarische konzentriert.

Wenn Ihnen Frau Roche einen Rohentwurf ihrer Schoßgebete vorgelegt hätte: Hätten Sie ihr eine Expertise gegeben? Oder sollte man generell keine Werke lektorieren von Menschen die man gut kennt und mag?

Willemsen: Ich hätte ihren Schoß ins Gebet genommen und versucht, dabei meine sieben Sinne zu bewahren. Nebenher wäre es mir wohl trotzdem nicht schwer gefallen, noch etwas Sachdienliches zu ihrem Roman beizubringen.

Wenn man das nach eigener Aussage stark autobiografische Buch liest, könnte man den Eindruck gewinnen, Charlotte Roche sei eine zwiegespaltene und haltlose Frau. Mitunter schwierig, aber liebenswert. Wie weit ist dies von Ihrer Wahrnehmung entfernt?

Willemsen: Ich bin in einer Zeit, die so sehr nach Konformität schreit, dankbar für eine Charlotte Roche, die abweichend denkt und fühlt, die einsteht für das, was sie sagt und schreibt, die ein heikles Leben führt und ihre Überzeugungen mit ihrer Lebenspraxis beglaubigt. Sie umgibt immer frische Luft. Das ist schön.

Hier geht es zum Medienecho über das neue Buch von Charlotte Roche.

car/news.de

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