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Psychologe im Interview: Schüchterne sind die besseren Partner

Schüchternheit ist kein Makel. Betroffene können mit ihr im Einklang leben, wenn sie die Vorteile des Schüchternseins für sich nutzen. Wie das gelingt, verrät Martin Schuster.

Martin Schuster gibt Tipps für Schüchterne. (Foto) Suche
Martin Schuster gibt Tipps für Schüchterne. Bild: news.de

News.de: Herr Schuster, kennen Sie «Das Model und der Freak»?

Martin Schuster: Nein, aber Sie werden es mir jetzt schildern.

News.de: Das ist eine Sendung auf Pro7, in der Models schüchterne Außenseiter coachen, ihnen Flirt- und Stylingtipps geben und Mutproben stellen. Was halten Sie von solchen Versuchen, aus schüchternen Männern echte Kerle zu machen?

Schuster: Für das Selbstwertgefühl sind solche Mutproben sicherlich nicht falsch. Man kann neue, positive Seiten an sich entdecken und sich stark und mutig fühlen. Es kommt aber auf die Mutprobe an, sie muss zu schaffen sein. Wenn sie misslingt oder den Betroffenen überfordert, erreicht man das Gegenteil.

News.de: Wann gilt man als schüchtern?

Schuster: Schüchterne Menschen sind im Umgang mit anderen Menschen gehemmt. Das zeigt sich in einer Reihe von Unterwerfungsgesten: Der Schüchterne mag anderen nicht in die Augen sehen, hält den Kopf gesenkt, spricht mit leiser Stimme, wird rot. Schüchterne haben Angst, von anderen Menschen kritisiert oder schlecht beurteilt zu werden, und vermeiden deshalb Situationen, in denen sie anderen begegnen. Sie haben Angst vor Auseinandersetzungen und häufig auch davor, Menschen des anderen Geschlechts zu begegnen.

News.de: Das sind aber Ängste, die fast jeder schon einmal erlebt hat.

Schuster: Das ist richtig. Bei einer Umfrage in Amerika haben deshalb auch 80 Prozent der Befragten angegeben, einmal schüchtern gewesen zu sein. Das ist auch nicht verwunderlich, denn Schüchternheit ist ein normales Merkmal.

News.de: Wie meinen Sie das?

Schuster: Schüchternheit ist die extreme Ausprägung einer sozialen Hemmung, die an sich nützlich ist und die jedermann haben muss. Im Normalfall führt diese soziale Hemmung dazu, dass sich Menschen höflich und angemessen verhalten. Sie fallen anderen nicht ins Wort, sind höflich zu ihren Vorgesetzten und erzählen Fremden nicht gleich intime Dinge. Wenn die soziale Hemmung ganz fehlt, spricht man von sozialer Distanzlosigkeit. Schüchterne Menschen haben dagegen zu viel von der sozialen Hemmung, sie können in Gesellschaft nicht aus sich herausgehen.

Wie sich soziale Phobie und Schüchternheit voneinander unterscheiden

News.de: Woran erkenne ich, ob ich einfach nur schüchtern bin oder ob es sich um eine soziale Phobie handelt?

Schuster: Es gibt Psychologen, die die Worte soziale Phobie und Schüchternheit nahezu synonym gebrauchen. Ich halte eine Unterscheidung für angebracht. Menschen, die in bestimmten Situationen gehemmt oder zurückhaltend sind, sind schüchtern. Wenn sich aus vielen schlechten Erlebnissen eine Angst vor sozialen Situationen entwickelt, liegt eine soziale Phobie vor. Zu den Symptomen dieser Krankheit gehören Zittern, Schwitzen oder die Angst zu erbrechen. Die Übergänge sind allerdings fließend: Aus Schüchternheit kann also durchaus soziale Phobie werden, die sich erfolgreich mit einer Verhaltenstherapie behandeln lässt.

News.de: Ist Schüchternheit angeboren?

Schuster: Es gibt zumindest Hinweise dafür, dass sie genetisch veranlagt sein könnte. Wenn beide Eltern schüchtern sind, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder auch schüchtern sind. Auch zu frühe Überforderung oder übermächtige und dominante Bezugspersonen können zu Schüchternheit führen. Darüber hinaus kann das Sozialverhalten durch häufiges Alleinsein außer Übung geraten und sich in der Folge Schüchternheit einstellen – etwa bei Jugendlichen, die zu viel Zeit am Computer oder mit Büchern verbringen.

News.de:Was ist denn der größte Fehler, den Schüchterne machen?

Schuster: Sie sind zu sehr damit beschäftigt, wie sie auf andere wirken, und haben Sorge, als schüchtern aufzufallen. Aber die meisten Menschen sind keine allzu genauen Beobachter und ebenfalls meistens nur mit sich selbst beschäftigt. Den wenigsten fällt auf, wenn einer auf einer Party nichts sagt. Die Schüchternheit steckt in einem drin und ist von außen nicht so leicht zu sehen – das beschützt schon einmal.

News.de: Hindert aber viele nicht daran, schüchterne Menschen für arrogant zu halten …

Schuster: Ja, wenn einer nicht gleich antwortet, wenn er anderen aus dem Weg geht, kann er zu Unrecht für arrogant, überheblich und wenig sympathisch gehalten werden.

News.de: Was schlagen Sie vor, um solche Missverständnisse zu vermeiden?

Schuster: Manchmal kann es nützlich sein, sich zu outen – auch wenn es schwer fällt. Man könnte sagen, dass man schüchtern ist und es einem nicht so leicht fällt, mit der ungewohnten Situation umzugehen oder ein Gespräch in Gang zu halten. Man wird dann vielleicht feststellen, dass der andere es gar nicht schlimm findet, dass man schüchtern ist. Schüchternheit kann ja auch sympathisch wirken. Vom Outen in der Gruppe rate ich allerdings ab. Gruppen sind oft unnachsichtig, manchmal brutal, und jemand könnte die Mitteilung des Schüchternen für dumme Scherze nutzen.

Warum es nicht schlecht ist, eine Rolle zu spielen

News.de: Wie reagiere ich auf spöttische Bemerkungen?

Schuster: Indem Sie die Einstellung eines Kleinkindes einnehmen: Es fällt ein paar Mal hin und steht doch immer wieder auf.

News.de: Viele Schauspieler sagen, sie seien früher sehr schüchtern gewesen ...

Schuster: … und eigentlich müsste man sich über die Berufswahl wundern. Für Schüchterne kann es hilfreich sein, eine Rolle mit einem festen Text zu haben. Sie sind dann gar nicht sie selbst, sondern ein anderer, und ihre Schüchternheit belastet sie in dem Moment nicht mehr. Ich rate Schüchternen deshalb, in Situationen, denen sie sich nicht gewachsen fühlen, eine Rolle zu übernehmen. Zum Beispiel könnte ein schüchternen Mann bei einem Rendezvous den Bodyguard seiner Begleiterin spielen – natürlich ohne dass die Angebetete davon erfährt.

News.de: Haben Sie weitere Tipps, um der Schüchternheit ein Schnippchen zu schlagen?

Schuster: Viele Schüchterne haben kreative Talente, die in ihnen schlummern. Sie können sich oft gut ausdrücken und könnten interessant formulierte Leserbriefe an die Zeitung schicken. Wer mehr zu bildnerischem Schaffen neigt, könnte schöne Fotos von Bekannten machen und einen Fotokalender zum Verschenken gestalten. Oder sie besuchen einen Volkshochschulkurs und lernen Maltechniken kennen. Verwirklichte Kreativität mindert das Schüchternsein und verhilft zu Stolz und Selbstbewusstsein.

News.de: Was schätzen Sie an schüchternen Menschen?

Schuster: Schüchterne sind gute Zuhörer und die idealen Partner. Sie sind höflich, fürsorglich, zuverlässig und treue Geschlechtspartner. Ein vollkommen nicht-schüchterner Mensch kann einem dagegen manchmal ganz schön auf den Geist gehen.

Das Gespräch führte News.de-Redakteurin Claudia Arthen
Der Kölner Psychologe Martin Schuster, geboren 1948, hat ein Selbsthilfebuch für Schüchterne geschrieben (Schüchternheit kreativ bewältigen; Hogrefe-Verlag), wohl wissend, dass viele Betroffene den Weg zu einem Psychotherapeuten scheuen.

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