"Schande, Schande!": Wutentbrannte Proteste gegen Wolodymyr Selenskyj - das steckt dahinter
In der Ukraine sind die heftigsten Proteste seit Kriegsbeginn ausgebrochen, nachdem Präsident Selenskyj ein höchst umstrittenes Gesetz zur Unabhängigkeit von Korruptionsermittlern unterzeichnete. Was bedeutet das für die EU-Pläne der Ukraine?
Erstellt von Claudia Löwe - Uhr
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- Heftige Proteste in der Ukraine gegen Wolodymyr Selenskyj
- Ukrainischer Präsident unterzeichnet umstrittenes Gesetz, das Unabhängigkeit von Korruptionsermittlern beschränkt
Wolodymyr Selenskyj hat am Abend des 22. Juli 2025 ein höchst umstrittenes Gesetz unterzeichnet, das die Befugnisse der ukrainischen Antikorruptionsbehörden massiv beschneidet - und damit heftige Proteste auf den Straßen des Landes ausgelöst. Die Entscheidung des ukrainischen Präsidenten erfolgte trotz eindringlicher Warnungen des NABU-Chefs Semen Krywonos und löste die größten Straßenproteste seit Beginn des russischen Angriffskrieges im Februar 2022 aus.
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"Schande, Schande!" Wutentbrannte Proteste in der Ukraine gegen Selenskyj
Das Gesetz mit der Nummer 12414 wurde im Eilverfahren durch das Parlament gepeitscht und gibt der Generalstaatsanwaltschaft weitreichende Kontrolle über Korruptionsermittlungen. Tausende wütende Demonstranten, überwiegend junge Menschen, versammelten sich in Kiew nahe dem Präsidentensitz und skandierten "Schande, Schande".
Die Proteste fanden trotz des landesweiten Demonstrationsverbots unter Kriegsrecht statt. Neben der Hauptstadt gingen Menschen auch in Lwiw, Odessa und Dnipro auf die Straße. Kritiker werfen Selenskyj zunehmend autoritäre Tendenzen vor und befürchten eine Rückkehr zu den Zeiten des gestürzten prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch.
Umstrittenes Gesetz unterzeichnet: Ukrainischer Generalstaatsanwaltschaft erhält Macht über Korruptionsermittlungen
Das neue Gesetz ermöglicht es der Generalstaatsanwaltschaft, laufende Ermittlungen des Nationalen Antikorruptionsbüros (NABU) und der Spezialisierten Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAPO) an sich zu ziehen. Die Behörde kann Verfahren gegen hochrangige Staatsbeamte stoppen und an andere Organe übertragen.
NABU und SAPO müssen künftig ihre Ermittlungsschritte mit der Generalstaatsanwaltschaft koordinieren. Dies bedeutet faktisch das Ende ihrer Unabhängigkeit, wie NABU-Chef Krywonos warnte: "Faktisch wurden zwei Institute - das Nationale Antikorruptionsbüro und die Spezialisierte Antikorruptionsstaatsanwaltschaft - in die Abhängigkeit überführt. Wir sind kategorisch dagegen."
Das Parlament verabschiedete die Gesetzesänderung mit 263 Stimmen in einem beschleunigten Verfahren. Kritiker bemängeln, dass die Änderungen in nicht verwandten Gesetzesvorlagen versteckt wurden, um eine öffentliche Debatte zu vermeiden. Der Abgeordnete Jaroslav Schelesnjak behauptete auf Telegram, Selenskyj habe das Gesetz unmittelbar nach der Parlamentsabstimmung unterzeichnet.
Wutentbrannte Proteste in der Ukraine nach umstrittener Gesetzesunterzeichnung
Zwischen 2.000 und 3.000 Menschen strömten zum Ivan-Franko-Theater im Herzen Kiews, nur wenige Schritte vom Präsidentenpalast entfernt. Die überwiegend jungen Demonstrierende ignorierten das unter Kriegsrecht geltende Versammlungsverbot und machten ihrem Unmut lautstark Luft.
"Sie schreien, dass sie nicht in die Zeiten von Janukowitsch zurückkehren wollen", berichtete Sergii Kostezh vom "Kyiv Post" vor Ort. Die Menge befürchtet eine Rückkehr zu prorussischer Regierungsführung in der Ukraine.
Die Kundgebungen markieren die größten Straßenproteste seit Russlands Großangriff im Februar 2022. Neben der Hauptstadt kam es auch in anderen Großstädten zu Demonstrationen. Die massive Mobilisierung trotz Kriegsrecht zeigt die tiefe Empörung über Selenskyjs Entscheidung, die viele als Verrat an den demokratischen Errungenschaften der Maidan-Revolution von 2014 sehen.
EU warnt Ukraine vor Gefahr für Beitrittsambitionen
Die Europäische Union reagierte alarmiert auf die ukrainischen Entwicklungen. EU-Erweiterungskommissarin Marta Kos äußerte sich auf X "ernsthaft besorgt" über die Parlamentsentscheidung. Sie bezeichnete die Aushöhlung der NABU-Unabhängigkeit als "schweren Rückschritt" und betonte, dass Rechtsstaatlichkeit im Zentrum der Beitrittsverhandlungen stehe.
Frank discussion with @Svyrydenko_Y and @taraskachka.
— Marta Kos (@MartaKosEU) July 22, 2025
Expressed serious concerns over the latest Rule of Law developments, especially changes adopted to the law on NABU & SAPO.
We'll continue working with Ukraine on the necessary rule of law reforms & progress on its EU path. https://t.co/UVtTAbEzsz
Ein Sprecher der EU-Kommission unterstrich in Brüssel die Bedeutung unabhängiger Antikorruptionsbehörden für Kiews Reformagenda. Er verwies auf die umfangreiche EU-Finanzhilfe, die an Fortschritte bei Transparenz und demokratischer Regierungsführung gekoppelt sei.
Ein westlicher Diplomat, der mit den ukrainischen Reformen vertraut ist, sprach in der britischen "Daily Mail" vom "gefährlichsten Moment" für die Unabhängigkeit der Antikorruptionsbehörden. "Die ukrainische Seite testet immer mehr die Grenzen aus", warnte er mit Blick auf die Geduld von Kiews Verbündeten.
Antikorruptionsbehörden als Erbe der Maidan-Revolution
Die jetzt bedrohten Institutionen NABU und SAPO entstanden nach dem prowestlichen Umsturz 2014, der den moskaufreundlichen Präsidenten Viktor Janukowitsch stürzte. Mit Unterstützung von EU und USA wurde ein Behördensystem zur Korruptionsbekämpfung aufgebaut, das die weitverbreitete Bestechlichkeit in Politik und Verwaltung eindämmen sollte.
Während des Krieges intensivierten beide Behörden ihre Arbeit und erhoben Anklage gegen Parlamentarier, Minister und einen ehemaligen stellvertretenden Leiter von Selenskyjs Administration. Transparency International stuft die Ukraine weiterhin als eines der korruptesten Länder Europas ein.
Ex-Premierministerin Julia Timoschenko begrüßte das neue Gesetz und sprach von einem "strahlenden Tag". Gegner der Antikorruptionsbehörden hatten diese stets als westliches Instrument zur Einflussnahme auf die ukrainische Politik kritisiert.
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loc/news.de/dpa/stg
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