Die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie waren teils heftig umstritten. Nun sind Protokolle zu Beratungen des RKI-Krisenstabs publik gemacht worden, die erneut heftige Debatten entfachen.
Als sich das Coronavirus seit Anfang 2020 auch in Deutschland explosionsartig ausbreitete, machte die Bundesrepublik dicht: Im Zuge des Lockdowns wurden Schulen und gastronomische Einrichtungen geschlossen, das Alltagsleben nahezu zum Stillstand gebracht. Seitens der Bundesregierung und auf Empfehlung des Robert-Koch-Instituts (RKI) sollte so die Ausbreitung des bis dato nahezu unbekannten Virus Sars-CoV-2 eingedämmt werden - doch außerhalb von Deutschland, beispielsweise in Schweden, fielen die Corona-Maßnahmen deutlich milder aus.
Geheime Papiere zur Corona-Pandemie in Deutschland: "Multipolar" klagt RKI-Protokolle frei
Was genau bewog die Regierung zu den drastischen Lockdown-Ansagen, was wurde bei den Sitzungen des RKI-Krisenstabs besprochen? Details dazu blieben bislang unter Verschluss. Nun ist ein Online-Magazin namens "Multipolar" vor Gericht gezogen und hat auf die Herausgabe der Corona-Protokolle geklagt - mit Erfolg. Veröffentlicht wurden die Unterlagen nun auf der Webseite des von Stefan Korinth und Paul Schreyer herausgegebenen Mediums "Multipolar", das sich selbst auf die Fahne geschrieben hat, unterschiedliche Perspektiven zu gesellschaftlichen und politischen Fragen darzustellen unddem von Kritikern eine Nähe zum Milieu der Corona-Leugner nachgesagt wird.
Auf den mehr als 1.000 Seiten, die teils geschwärzte Protokolle des RKI-Krisenstabs von Januar 2020 bis April 2021 enthalten, finden sich mehrere Passagen, die die Debatte um die scharfen Lockdown-Ansagen der Bundesregierung neu entfachen. "Multipolar" setzte die Herausgabe der Protokolle nach eigenen Angaben nach einem Antrag nach dem Informationsfreiheitsgesetz juristisch durch. Aus Teilen der Opposition wurden bereits Rufe nach einem Untersuchungsausschuss laut.
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So reagiert Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach auf die Enthüllung der RKI-Protokolle
Inzwischen hat sich auch die Bundesregierung zu den enthüllten Unterlagen geäußert. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach ist Vermutungen über eine äußere Einflussnahme auf eine grundlegende Risiko-Einschätzung des Robert Koch-Institut (RKI) zu Beginn der Corona-Krise 2020 entgegengetreten. "Das RKI hat unabhängig von politischer Weisung gearbeitet", sagte der SPD-Politiker. In einem Protokoll vom 16. März 2020 ist laut dem Bericht von einer vorbereiteten neuen Gefahreneinschätzung des RKI die Rede: "Es soll diese Woche hochskaliert werden. Die Risikobewertung wird veröffentlicht, sobald (Passage geschwärzt) ein Signal dafür gibt." Das Magazin "Multipolar" leitete daraus ab, dass die Verschärfung der Risikobewertung als Grundlage für spätere Corona-Beschränkungen nicht auf einer fachlichen Einschätzung des Instituts beruht habe, sondern auf der politischen Anweisung eines externen Akteurs. Dessen Name sei im Protokoll geschwärzt.
Lauterbach sagte, der "geschwärzte Mitarbeiter" sei ein Mitarbeiter des RKI. "Es gab also keine politische Weisung, auf die das RKI hier reagiert hätte." Wenn es in den Papieren Schwärzungen gebe, betreffe dies meistens Mitarbeiter, die vor der Öffentlichkeit geschützt werden müssten. Wie das Ministerium erläuterte, machte das RKI am 17. März 2020 die neue Gefahreneinschätzung für die Bevölkerung in einer Pressekonferenz bekannt. Sie wurde von "mäßig" auf "hoch" gesetzt.
Corona-Maßnahmen in Deutschland zu strikt? So werden die Entscheidungen nachträglich begründet
Zur Begründung war eine sehr starke Zunahme nachgewiesener Infektionen genannt worden - auch wenn es damals insgesamt zunächst weniger Fälle gegeben habe als etwa bei der Grippe, wie es hieß. Zunehmend hätten Gesundheitsämter berichtet, Kontaktpersonen nicht nachverfolgen zu können. Die Lage habe sich je nach Region unterschieden. Das Ministerium wies darauf hin, dass das RKI eine fachliche Bewertung vorgenommen habe, die im damaligen Zusammenhang zu sehen sei. So habe die Weltgesundheitsorganisation WHO fünf Tage zuvor, am 11. März 2020, die Pandemie ausgerufen. "Multipolar" schrieb, die Hochstufung sei "ohne jede Andeutung in den vorhergehenden Protokollen" erfolgt.
Lauterbach betonte, die Leistung des RKI in den frühen Phasen der Pandemie sei "ausgezeichnet" gewesen. In Deutschland seien sehr viel weniger Leute gestorben als in anderen Ländern mit vergleichbar alter Bevölkerung. Der Minister sprach sich für eine wissenschaftliche Aufarbeitung des Krisenmanagements beispielsweise in dem gerade beim Kanzleramt eingerichteten Expertenrat "Gesundheit und Resilienz" aus. Eine politische Debatte, wo kleine Gruppen versuchten, das Thema zu nutzen und damit Politik gegen den Staat zu machen, würde "uns nicht nach vorne bringen".
Opposition schreit nach Veröffentlichung ungeschwärzter Corona-Protokolle
FDP-Bundesvize Vorsitzende Wolfgang Kubicki forderte Lauterbach auf, sämtliche Protokolle des RKI-Krisenstabs ohne Schwärzungen zu veröffentlichen. "Früher oder später wird er ohnehin gezwungen werden, entweder gerichtlich oder politisch, dies zu tun", sagte Kubicki der Deutschen Presse-Agentur. Es werde immer deutlicher, dass das RKI für die Gesundheitspolitik des damaligen Ministers Jens Spahn (CDU) und wohl auch von Lauterbach "als wissenschaftliche Fassade gedient hat".
Die AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht forderten eine parlamentarische Aufklärung. "Eine Enquete-Kommission reicht nicht aus", sagte Wagenknecht der dpa. "Notwendig ist ein Untersuchungsausschuss, um die Zeit mit den größten Grundrechtseinschränkungen in der Geschichte der Bundesrepublik zu beleuchten." Der AfD-Gesundheitspolitiker Martin Sichert rief zu Unterstützung dafür auf, einen Untersuchungsausschuss einzurichten. "Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf zu erfahren, was damals wirklich passierte."
Zoff um offengelegte Corona-Protokolle des RKI: Deshalb wichen politische Entscheidungen von RKI-Standpunkten ab
Der Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen sagte der dpa: "Besonders die sehr konsequenten Maßnahmen während der ersten Welle, als es noch keine Impfung und zu wenig Schutzausrüstung gab, haben sehr viele Menschenleben gerettet." Er wandte sich gegen eine Enquete-Kommission oder einen Untersuchungsausschuss. "Als Arzt und Politiker finde ich es vor dem Hintergrund der unzähligen Opfer falsch, die Aufarbeitung der Pandemie nun für die anstehenden Wahlkämpfe instrumentalisieren zu wollen."
Das RKI erklärte, die Protokolle seien Zusammenfassungen von Diskussionen und Entscheidungen innerhalb des Krisenstabs. "Diese Diskussionen spiegeln den offenen wissenschaftlichen Diskurs wider, in dem verschiedene Perspektiven angesprochen und abgewogen werden.". Einzelne Äußerungen spiegelten dabei nicht zwangsläufig die dann abgestimmte Position des RKI wider. Das Institut hatte die Dokumente im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens herausgegeben, wie eine Sprecherin auf dpa-Anfrage sagte. Ob es sich bei den online gestellten Unterlagen, um die Originaldokumente handelt, kann das RKI nach Angaben der Sprecherin "nicht bewerten."
Beschlüsse aus der Corona-Pandemie offengelegt: Das beschloss der RKI-Krisenstab zu Maskenpflicht, Lockdown und Co.
Die Unterlagen beziehen sich auf den Zeitraum zwischen Januar 2020 und April 2021. Offenbar waren sich die Entscheider bereits in der Anfangsphase der Corona-Pandemie der einschneidenden Folgen des Lockdowns bewusst. Als die Risikobewertung im März 2020 auf "hoch" herausgestuft wurde, sei den Protokollen zufolge bereits absehbar gewesen, dass harte Lockdown-Regeln die Bevölkerung schwerer treffen könnten als die ungehemmte Ausbreitung von Covid-19. Auch zum Thema Maskenpflicht finden sich Notizen in den Corona-Dokumenten des RKI. In einem Meeting, das Ende Oktober 2020 protokolliert wurde, hieß es demnach: "Es gibt keine Evidenz für die Nutzung von FFP2-Masken außerhalb des Arbeitsschutzes." Zum Zeitpunkt der RKI-Sitzung habe man dem Protokoll zufolge mit dem Gedanken gespielt, diese Informationen öffentlich zu verbreiten - doch stattdessen wurde im Winter 2020 eine strengere Maskenpflicht in Deutschland eingeführt.
Impfstoff-Beschlüsse und 3G-Regel in geheimen RKI-Protokollen offengelegt
In den geheimen RKI-Papieren wurden zudem Anfang 2021 Feststellungen zu neuen Corona-Impfstoffen notiert, die zu späteren offiziellen Verlautbarungen in der Corona-Pandemie in Gegensatz stehen. So wurde bei Sitzungen des RKI-Krisenstabs zunächst angezweifelt, wie großflächig der als "weniger perfekt" angesehene Sars-CoV-2-Impfstoff von Astrazeneca eingesetzt werden solle, da die Datengrundlage für die Wirksamkeit und Risiken sehr dünn sei. Im März 2021 wurde der Astrazeneca-Impfstoff jedoch "für alle Altersklassen" zum Schutz vor dem Coronavirus empfohlen, was mit aktuellen Studien-Erkenntnissen begründet wurde.
Ebenfalls besprochen wurden den Protokollen aus dem Monat März 2021 zufolge, welche Sonderrechte Genesenen und Geimpften eingeräumt werden sollen. Zunächst vertrat der Krisenstab des RKI offenbar den Standpunkt, dass es "fachlich nicht begründbar" sei, wenn geimpften und von einer Coronainfektion genesenen Personen andere Rechte als Ungeimpften eingeräumt würden. Die Einführung der 3G-Regel, die auf das Coronavirus getesteten, geimpften und genesenen Personen mehr Bewegungsfreiheit einräumte, folgte dennoch im Herbst 2021.
Coronaleugner-naher Blog will gegen Schwärzungen auf RKI-Protokollen vor Gericht klagen
Für die Macher von "Multipolar" ist die Recherche in Sachen RKI-Protokolle jedoch noch nicht vorüber: Am 6. Mai 2024 soll laut "t-online.de" erneut vor dem Berliner Verwaltungsgericht gestritten werden. Diesmal werde die Herausgabe der Corona-Protokolle ohne die umfangreichen Schwärzungen gefordert, um die Entscheidungen während der Corona-Pandemie nachvollziehbarer zu machen.
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loc/news.de/dpa