Kommentar zum Primärarztsystem: Gesundheitsreformen ja - aber nicht auf Kosten der Ärmsten

Bald sollen gesetzlich versicherte Patienten erst zum Hausarzt und danach zum Facharzt. Kassenärzte schlagen eine Alternative vor - eine Lösung ist die allerdings auch nicht. Ein Kommentar.

Von news.de-Redakteur - Uhr

Mehrere Hundert Euro pro Jahr zahlen, um direkt zum Facharzt zu gehen - das kann sich nicht jeder leisten. (Foto) Suche
Mehrere Hundert Euro pro Jahr zahlen, um direkt zum Facharzt zu gehen - das kann sich nicht jeder leisten. Bild: picture alliance/dpa | Arne Dedert
  • Die kassenärztliche Bundesvereinigung macht Vorschlag zum Primärarztsystem
  • Vorschlag hätte jedoch ernsthafte Konsequenzen für die Ärmsten im Land
  • Mehr Informationen zum Gesundheitssystem in Deutschland finden Sie am Ende des Beitrags

Pro Jahr ein paar Hundert Euro zahlen und dafür weiterhin direkt zum Facharzt gehen können - das schlägt Andreas Gassen, Chef der kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) vor. Die Idee soll eine Alternative zum Primärarztsystem bieten, das Union und SPD planen. Dass die schnelle Versorgung mit teils lebenswichtige Gesundheitsleistungen Wohlhabenden vorbehalten sein wird, wird dabei nicht berücksichtigt.

Warum das Primärarztsystem ein großes Problem darstellt

Dass das Primärarztsystem unter gesetzlich Versicherten eher wenig beliebt ist, dürfte selbstverständlich sein. Es schränkt die Wahl des Arztes für die Versicherten stark ein, verzögert die medizinische Versorgung und macht diese abhängig von der Qualität des Hausarztes. Auch bei Hausärzten dürfte es für Unmut sorgen, denn als erste Anlaufstelle werden sie künftig mit einer großen zusätzlichen Belastung rechnen müssen. Besonders im ländlichen Raum kann das zu einem Stau in der Versorgung führen. Der Vorschlag der KBV soll eine Alternative bieten.

Welche Alternative zum Primärarztsystem schlägt die KBV vor?

"Unser Vorschlag lautet: Versicherte, die auch künftig generell ohne Überweisung eines Hausarztes oder eine digitale Ersteinschätzung direkt zu einem Facharzt gehen wollen, müssen einen zusätzlichen Facharzttarif mit jährlichen Kosten von voraussichtlich 200 bis 350 Euro abschließen", erklärte Vereinigungschef Gassen dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.

Vom Vorhaben der Koalition würden eher ältere Menschen mit vielen Krankheiten und Chroniker profitieren, für den Rest wird es eine Hürde darstellen. Besonders jüngere Patienten gehen häufiger direkt zum Facharzt. Wer einen Facharzttarif abschließe, "hat die Wahlfreiheit und kann auch in Zukunft immer direkt zum Facharzt gehen".

Ergebnis des Systems: Arme Menschen sterben früher

Was Gassen und die KBV dabei - mit Sicherheit nicht ganz unabsichtlich - nicht erwähnen: Diese Alternative bleibt eben auch nur denen vorbehalten, die jene horrenden Gebühren zahlen können. Wer es sich leisten kann, zahlt und behält seine Wahlfreiheit. Doch Menschen mit geringem Einkommen sind dazu gezwungen, im Primärarztsystem zu verbleiben. Das Ergebnis: Eine Zwei-Klassen-Medizin, bei der das Einkommen über die Qualität und Geschwindigkeit der Versorgung entscheidet.

Ohnehin sterben ärmere Menschen generell früher als Reiche. Das zeigt eine 2018 veröffentlichte Studie der Imperial College London's School of Public Health. Laut den Ergebnissen der Studie ist die Lebenserwartung der ärmsten Engländer im Schnitt zehn Jahre geringer als die der reichsten. Die Lücke zwischen ihnen wird dabei zunehmend größer.

Die meisten Erkrankungen könnten gut behandelt werden

Die Wissenschaftler identifizierten mehrere Faktoren, die zu dem schlechten Gesundheitszustand der ärmeren Bevölkerung beitragen. Neben einer schlechten Versorgung mit gesundheitsfördernder Ernährung zählen dazu auch die zahlreichen Kürzungen im Gesundheitsbereich. Diese führten nach Einschätzung der Experten dazu, dass zahlreiche gut behandelbare Krankheiten deutlich zu spät erkannt und behandelt werden konnten.

In der Folge verlaufen Erkrankungen wie Krebs oder Demenz deutlich häufiger tödlich oder setzen früher ein. Somit sterben ärmere Menschen häufig an Krankheiten, die mit einer besseren medizinischen Versorgung - etwa ein schneller Checkup-Termin beim Facharzt - behandelt werden könnten. Die Forscher mahnen: Die beste Chance, diesen Effekt umzukehren, wäre, besonders in benachteiligten Gebieten in das Gesundheits- und Sozialwesen zu investieren. Diese Warnung fällt sowohl bei Politik als auch Interessenverbänden jedoch auf taube Ohren.

Verhältnisse bei Gesundheitsversorgung bald wie in den USA?

Wird der Vorschlag ernsthaft in Erwägung gezogen, könnte das ein düsterer Vorgeschmack auf das sein, was noch kommt. Ein "Zuzahlungsmodell" für die freie Arztwahl könnte nicht nur das Solidarprinzip untergraben, das unser Gesundheitssystem ausmacht. Hier muss allen klar sein: Es wird über Menschenleben verhandelt.

Die Folgen eines solchen Systems wären gravierend für die weniger privilegierten unter uns. Doch genau so muss der Vorschlag auch verstanden werden - eine geschwächte, kranke Unterschicht ist explizit gewollt. Verhältnisse wie in den USA sind nur eine Reform des Gesundheitssystems entfernt.

Mehr Informationen zum deutschen Gesundheitssystem finden Sie hier:

/fka/news.de/dpa

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