Alles ist Chemie: Warum "chemiefrei" völliger Unsinn ist

"Chemiefrei": Ein Wort, das Vertrauen schaffen und Ängste besänftigen soll. Doch es ist ein Etikett, das die Wirklichkeit verdreht: Denn alles ist Chemie. Wer "chemiefrei" verspricht, verkauft ein Märchen. Ein Kommentar.

Von news.de Redakteurin - Uhr

Die "Chemiefrei"-Lüge hat Folgen für Verbraucher. (Foto) Suche
Die "Chemiefrei"-Lüge hat Folgen für Verbraucher. Bild: AdobeStock / Photographer
  • "Chemiefrei" ist ein Marketing-Märchen – alles um uns herum ist Chemie.
  • "Natürlich" wird zum Gütesiegel, "Chemie" zum Schimpfwort – eine gefährliche Sprachfalle.
  • Selbst ein Apfel ist ein Molekül-Cocktail mit hunderten Inhaltsstoffen.

"Chemiefrei putzen mit Essig und Natron", versprechen große Marken. Doch so leicht lässt sich die Natur nicht austricksen: Essig ist nichts anderes als verdünnte Essigsäure und Natron der Trivialname von Natriumhydrogencarbonat. Zusammenfassend gesagt: beides Chemikalien.

Das Märchen von einer "chemiefreien" Welt

Der Werbeslogan "chemiefrei" lebt von einem Missverständnis. Alles, was wir anfassen, riechen oder trinken, ist Chemie – vom Apfelsaft bis zur Luft, die wir atmen. Wer "chemiefrei" fordert, verlangt im Grunde das Unmögliche: eine Welt ohne Stoffe.

Was die Marketingabteilungen aber eigentlich mit dem Begriff "chemiefrei" meinen: frei von "künstlich hergestellten" Zusätzen. Das klingt schon viel nüchterner, aber weniger magisch. Also bleibt man beim Zauberwort "chemiefrei". Der Trick funktioniert: Der Verbraucher fühlt sich sicher, ökologisch und gesund, während er in Wahrheit einfach nur auf eine sprachliche Illusion hereinfällt.

Natürlich vs. chemisch: Wie Marketing uns täuscht

Besonders absurd wird es beim Blick ins Supermarktregal. Wenn vegane Lebensmittel als "Nahrung aus dem Chemiebaukasten" beschimpft werden, steckt dahinter oft die gleiche Verwirrung. Dabei besteht auch ein Naturjoghurt aus einem bunten Cocktail von chemischen Verbindungen – Milchzucker, Milchsäure, Eiweiße, Fette. "Natürlich" ist also nicht gleichbedeutend mit "chemiefrei", sondern nur ein beruhigendes Etikett.

Chemie als Schimpfwort: Die Folgen für Verbraucher

Die Verwechslung hat Folgen: "Chemie" wird zum Schimpfwort, "natürlich" zum Gütesiegel – egal, wie korrekt oder irreführend das ist. Die Folge: Misstrauen gegenüber Wissenschaft, Verklärung von natürlichen Stoffen, Verwirrung im Alltag. Dass ein Apfel rund 300 verschiedene Moleküle enthält, die seinen Geschmack ausmachen, überrascht viele. Dass derselbe Apfel mit denselben Molekülen im Labor zusammengesetzt werden könnte, macht ihn nicht weniger "natürlich".

Und so steckt hinter dem Wörtchen "chemiefrei" eine große Sprachlücke. Sie trennt die Alltagssprache von der Wissenschaft. Wer in der Werbung oder in Ratgeberblogs so tut, als könne man Chemie aus dem Leben streichen, befeuert dieses Missverständnis und spielt mit den Ängsten der Verbraucher.

Chemie ist Leben: Warum wir sie brauchen

Klar ist: Niemand möchte überflüssige oder schädliche Zusatzstoffe im Essen oder gefährliche Reiniger im Haushalt. Aber wer von "chemiefrei" spricht, weckt falsche Hoffnungen und fördert falsche Bilder. Sprache formt Denken und hier führt sie in die Irre.

Am Ende hilft nur Aufklärung. Chemie ist nicht das Böse, sondern die Grundlage unseres Lebens. Ohne sie gäbe es kein Brot, keinen Kaffee, keinen Wein. Und eben auch nicht den Essig, mit dem wir "chemiefrei" putzen.

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