Von news.de-Redakteur Jan Grundmann - Uhr

Suizid-Hochburg Japan: Bitte springen Sie nicht zur Hauptverkehrszeit!

Was früher eine Ehre war, gehört heute zum Alltag: In keiner anderen Industrienation bringen sich mehr Menschen um als in Japan - allein 2000 springen vor einen Zug. Spiegel, blaues Licht und Warnschilder helfen da nur wenig.

Menschenmassen in einer Metro-Station in Tokio: Suizide können das japanische Verkehrsnetz schnell zum Erliegen bringen.  (Foto) Suche
Menschenmassen in einer Metro-Station in Tokio: Suizide können das japanische Verkehrsnetz schnell zum Erliegen bringen.   Bild: dpa

Als der Japaner Joi Ito die Stufen zur Metrostation hinabläuft, sieht er es bereits auf den Monitoren: Fahrgastunfall. Jemand hat sich vor den Zug geworfen, wieder mal. Es ist eine immer größere Masse von Menschen, die sich an der Station sammelt. Schließlich erwischt er eine Metro, die fährt einige Stationen und kommt dann zum Stehen. Irgendwo auf der Strecke wird wohl gerade aufgeräumt.

«Dann wurde der Motor der Metro ausgeschalten. Jeder im Zug war ruhig. Der Fahrer entschuldigte sich nochmal für die Verspätung», so Joi in seinem Blog. «Ich schaute mich um, all diese müden Menschen mit ihren leeren Gesichtern. Es schien, als ob wir unfreiwillig um den Tod eines anderen Japaners trauern, der aufgegeben hat.»

Suizid ist in Japan keine Sünde

In Japan haben sich im vergangenen Jahr mehr als 30.000 Menschen das Leben genommen. Es ist seit Jahrzehnten ein trauriger Spitzenplatz. In keiner anderen Industrienation bringen sich so viele Menschen um. Ein Grund: Im Gegensatz zum Christentum gilt Selbsttötung dort nicht als Sünde. Für die Samurai bedeutete Harakiri, der rituelle Akt der Selbsttötung, die Wiederherstellung der Ehre. Und in Japan gilt ein Jobverlust als Schande, sich selbst und der Familie gegenüber. Im Jahr 2006 hat das japanische Parlament deshalb ein Gesetz zur Suizidprävention eingeführt. Das Land hat zudem einen jährlichen Tag des Lebens im Dezember ins Leben gerufen, an dem in allen Medien über das Problem Freitod gesprochen wird.

Jährlich töten sich fast 2000 Japaner durch das Springen vor einen Zug. Das sind pro Tag rund 5,5 Zug-Suizide. In Deutschland sind es laut Bahnchef Rüdiger Grube «in ‹normalen› Zeiten» drei bis vier pro Tag. Nur der Enke-Effekt, der Selbstmord des depressiven Nationaltorhüters, ließ die Zahl ansteigen, vor allem junge Nachahmungstäter legten sich vermehrt auf die Schienen.

Selbstmord auf Bahngleisen vs. japanische Pünktlichkeit

Nun ist aber das japanische Verkehrssystem weitaus stärker befahren als die deutschen Trassen. So ist etwa das Tokioter Nahverkehrsnetz mit knapp acht Millionen Passagieren täglich das meistgenutzte der Welt. Um dieses Verkehrsaufkommen zu bewältigen, sind die Züge auf den 13 U-Bahn-Strecken entsprechend dicht getaktet - und bemerkenswert pünktlich. Schon ab einer Minute Verspätung ertönen Entschuldigungen aus Lautsprechern.

Ein Selbstmord kann da schnell zum Chaos in diesem sensiblen System führen. «Wenn vor allem morgens in der Rushhour etwas passiert, haben wir natürlich ein großes Problem», erklärt Hideyoshi Terui, ein Manager der U-Bahn-Betreibergesellschaft JR East. Deshalb gilt die Vorgabe, dass nach einem Suizid die Strecke 30 Minuten später wieder frei sein muss. Freifahrtgutscheine gibt's dabei zügig - und ohne bürokratisches Fahrgastrechteformular wie bei der Deutschen Bahn.

Blaues Licht auf Bahnsteigen: relaxen statt springen

Die Präventionsarbeit in Sachen Schienenselbstmord lässt sich die Tokioter Metro viel kosten. So wurden inzwischen Spiegel an den Gleisen installiert - potenzielle Selbstmörder sollen so in letzter Minute vor dem tödlichen Schritt bewahrt werden.

Nach der Finanzkrise 2008/2009 und den rasant gestiegenen Selbstmordraten entschloss sich Betreiber Eastern Japan Railway, auf den Bahnsteigen seiner Tokioter Metrolinie Yamanote blaue LEDs zu installieren. Die tauchen die Bahnsteige seither in ein unwirkliches Licht. Das soll potenzielle Selbstmörder abhalten - Farbpsychologen sind überzeugt, dass blaues Licht beruhigt. Sogar Selbstmörder würden es mit Himmel und Meer verbinden - und entsprechend relaxen statt springen.

Einen anderen Weg wählten die Verantwortlichen in Shinjuku. Der Tokioter Bahnhof ist mit mehr als drei Millionen Passagieren täglich einer der größten der Welt. Deshalb werden potenzielle Selbstmörder auf die Auswirkungen ihrer Tat aufmerksam gemacht, denn der Verkehrsinfarkt ist nah in Shinjuku. Doch das Warnschild mit der Aufschrift «Bitte springen Sie nicht in der Hauptverkehrszeit» musste angesichts massiver Proteste entfernt werden.

beu/news.de

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