Von news.de-Redakteurin Isabelle Wiedemeier - Uhr

Angst vor dem Scheintod: Toterklärte Frau lebte noch

Eine 89-jährige Frau ist von einem Notarzt in Nordhorn fälschlicherweise für tot erklärt worden. Erst der Bestatter merkte eine Stunde später, dass die Frau noch lebte. Die Angst, scheintot begraben zu werden, begleitet die Menschen seit Jahrhunderten.

«Schrecklich die Vermutung, doch entsetzlicher noch das Schicksal selbst!» Edgar Allan Poe hatte sein Leben lang Angst. Nicht so sehr vor dem Tod, sondern vielmehr davor, lebendig unter die Erde gebracht zu werden. Sein Buch Lebendig begraben zeugt davon.

Eine Hysterie, die viele seiner Zeitgenossen teilten. Vom 17. bis 19. Jahrhundert gruselte man sich herrlich bei den Schauergeschichten über Scheintote. Skelette, die beim Umbetten plötzlich gekrümmt im Sarg lagen, Kratzspuren im Sarg und sogar eine Frau mit einem Fötus zwischen den Oberschenkeln nährten diese tief im Innern verankerten Ängste.

«Der unerträgliche Druck auf die Lungen, die erstickenden Dünste der feuchten Erde, das hemmende Leichengewand, die harte Enge des schmalen Hauses, die unsichtbare, doch fühlbare Nähe des Eroberers Wurm», so fasste Edgar Allen Poe seine Panik in Worte. Halb verweste Leichen zogen in den Gruselgeschichten über Friedhöfe. Die Untoten, seit dem 20. Jahrhundert als Zombies bekannt, suchten die Lebenden heim.

Grund für die Angst war, dass die Grenze zwischen Leben und Tod damals noch nicht sicher bestimmt werden konnte. Das Koma beispielsweise war noch nicht bekannt. Immer wieder gab es Fälle, in denen Menschen vom Leichenbett aufstanden. Im 18. Jahrhundert hielt man Toten einen Spiegel vor, um zu sehen, ob sich Atem darauf niederschlug, eine Kerze oder Feder, um leise Luftbewegungen aufzufangen, oder stellte ihnen ein Glas Wasser auf die Brust.

Mit der Angst, irgendwann kratzend im Sarg zu liegen, lebte auch Dostojewski, der abends Zettel neben sein Bett legte: «Sollte ich in lethargischen Schlaf fallen, begrabe man mich nicht vor ... Tagen!». Taphephobie, was auf griechisch Angst vor dem Grab bedeutet, nennt sich das Phänomen, unter dem auch Hans Christian Andersen litt. Er verfügte in seinem Testament, ihm nach dem Tod die Pulsadern durchzutrennen. In Österreich war es üblich, sich ins Herz stechen zu lassen, um sicher zu gehen, nicht irgendwann im Sarg zu erwachen. Johann Nestroy und Arthur Schnitzler wählten diese Methode.

«Es gab unmögliche Sachen. Die Leute ließen sich Fäden an Fingern und Zehen befestigen, die zu einem Glöckchen über der Erde führten», schildert Winfried Koebe, der Vorsitzende des Verbandes unabhängiger Bestatter. Doch die Angst vor dem Scheintod lebt weiter. «In Amerika möchten manche Leute ein Handy mit ins Grab gelegt bekommen», erzählt Koebe.

Anlass zu solch unzeitgemäßer Panik sei auch die Berichterstattung der Boulevardpresse, findet er. «Da wird wahnsinnig Schindluder mit getrieben.» Er erinnert sich an einen Patienten, der schon in die pathologische Abteilung eines Krankenhauses gebracht worden war und doch noch lebte. «Darüber wird dann seitenweise geschrieben.»

Die 89-jährige Frau, die von einem Notarzt für tot erklärt und eine Stunde später vom Bestatter lebend vorgefunden wurde, ist so ein Fall. «Für mich ist das unvorstellbar», meint Heidrun Choinitzki, niedergelassene Ärztin in Leipzig. Den Tod erkenne man durch Überprüfen der Atmung, von Puls, Herzschlag und Reflexen und auch daran, dass die Pupillen trüb werden und sich Leichenflecke über den Körper ausbreiten, erklärt die Medizinerin.

Um den Totenschein auszustellen, muss ein niedergelassener Arzt zudem eine umfassende Leichenschau durchführen, bei der er den unbekleideten Körper komplett untersucht. «Eigentlich ist er auch verpflichtet, sich am nächsten Tag noch einmal im Leichenschauhaus zu vergewissern, dass die Person tatsächlich tot ist», sagt Choinitzki. Das mache allerdings kaum ein Kollege.

In Osnabrück ermittelt nun die Staatsanwaltschaft gegen den Notarzt, der die alte Frau voreilig für tot erklärte, die vier Tage später dann tatsächlich starb. Noch ist nicht klar, ob er einen Fehler gemacht hat. Eigentlich ist ein Notarzt nicht für die Leichenschau verantwortlich, es ist allerdings fraglich, ob er den Totenschein hätte ausstellen dürfen.

Die Sorge, lebendig begraben zu werden, sei heutzutage völlig unbegründet, meint Bestatter Winfried Koebe. Allerdings habe er selbst einmal einen Schockmoment erlebt, als er am Tag nach dem Einsargen einer Frauenleiche den Deckel öffnete. Die Augen standen offen, und die Pupillen waren völlig klar. «Ich hatte erstmal eine Gänsehaut. Wenn man so klar und deutlich angeguckt wird, das ist eigenartig.» Er rief sofort den Arzt, doch die Frau war tatsächlich tot.

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