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Zwischen Gaudi und Gefahr: Auf dem Oktoberfest bleibt Sicherheit vor Übergriffen eine Illusion

Nicht für jeden ist das Oktoberfest ein Anlass zur Freude - ganz im Gegenteil. Bild: picture alliance/dpa | Felix Hörhager

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  • Fälle sexuelle Belästigung auf dem Oktoberfest häufen sich
  • Polizei und Organisatoren greifen zu selten ein und lassen Betroffene im Stich
  • Mehr zur diesjährigen Wiesn finden Sie am Ende dieses Beitrags

Das Oktoberfest ist ein Symbol für Frohsinn, Tradition und Begegnung - zumindest für die männlichen Besucher (und sowieso auch für den Lieblings-Foodblogger der Nation, Markus Söder). Für die weiblichen Besucherinnen bedeutet es allerdings jedes Jahr aufs neue vor allem eines: Das Aushalten sexueller Belästigungen, enthemmten Verhaltens und einer Kultur des Wegschauens. Das zeigt auch ein Video, das aktuell im Netz viral geht.

Haben Sie, ein Angehöriger oder Freunde sexuelle Gewalt erlebt? Beim "Hilfetelefon Sexueller Missbrauch" erhalten Sie Hilfe unter der Telefonnummer: 0800 22 55 530. Weitere Hilfsangebote finden Sie hier.

"Ich will dir ins Gesicht spritzen" - dieses Video schockt das Netz

Der User @bilalssk21 teilte bereits am 23. September auf der Plattform "X" das Video einer jungen Frau, die sich offenbar gerade auf der Wiesn befand. Aus dem Nichts kommt ihr ein Betrunkener entgegen - und lallt folgendes: "Ich will dir ins Gesicht spritzen." Nein: Das ist kein Spaß, kein dummer Witz - und auch ganz sicher "nicht heiß", wie ihm die Frau selbst entgegnet.

Es sei ja nur ein "Scherz" gewesen, betont der Trunkenbold noch einmal, nachdem ihm mitgeteilt wurde, dass eine Kamera das ganze aufgezeichnet habe. Währenddessen streichelt er sie an der Schulter. Das Video bricht noch mitten im Geschehen ab - wie die Situation ausgeht, ist ungewiss.

Kein Einzelfall: Belästigung ist auf der Wiesn Kultur

Das Video steht symbolisch für hunderte solcher Vorfälle - jedes Jahr. Im Jahr 2023 wurden Zahlen der Aktion "Sichere Wiesn für Mädchen* und Frauen*" zufolge 320 Frauen und Mädchen auf dem Oktoberfest registriert, während es im Jahr 2024 bereits 352 Fälle waren.Viele der Übergriffe sind subtiler als der im Video: anzügliche Blicke, hinterhältige Kommentare, unangenehme Berührungen an Po oder Beinen - kaum jemand reagiert sofort, wenn alle um einen tanzen, trinken und sich vergessen.

Doch schon diese kleinen Grenzüberschreitungen sind das Fundament einer Kultur, in der Gewalt und Belästigung toleriert werden, bevor sie eskalieren. Sie werden verschwiegen, verharmlost, verdrängt - oft mit dem Zweck, den öffentlichen Frieden nicht zu stören. Statt Solidarität bekommen Betroffene häufig Standardsätze wie "Jetzt hab dich nicht so" oder "Das war ja nur ein Scherz" an den Kopf geworfen. Mit ihren Gefühlen von Scham, Wut und Schock werden sie im Stich gelassen.

Wer sorgt für mehr Sicherheit auf dem Oktoberfest?

Apropos, im Stich lassen: Was macht eigentlich die Polizei dagegen? Laut eigener Aussage liege das Augenmerk der Polizisten auf der Wiesn dieses Jahr besonders auf Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Auch das sogenannte "Upskirting" - das Fotografieren und Abfilmen unter den Dirndl-Rock - werde ganz klar verfolgt. "Jede Belästigung und jede Tätlichkeit in diesem Bereich ist eine zu viel", betonte Polizei-Vizepräsident Christian Huber vor Beginn der Wiesn.

Und wie gut funktioniert dieser Vorsatz? Gar nicht, lautet die Antwort - bereits am ersten Oktoberfest-Wochenende wurden 90 Straftaten registriert, darunter sechs Fälle sexueller Belästigung. Die Dunkelziffer ist natürlich noch viel höher. Auch dieses Jahr ist mit einer traurigen Statistik zu rechnen.

Ohnehin scheint das Verfahren selbst wie dafür gemacht, Betroffene davon abzuhalten, die Delikte zur Anzeige zu bringen. Männliche wie weibliche Beamte zeigen selten Fingerspitzengefühl, was die Befragung zum Tathergang angeht. Oft kommen Fragen wie "Aber hat es dir gefallen?"; den Betroffenen wird wenig Empathie entgegengebracht. Auch Beweise für die Tat gibt es schlichtweg häufig nicht - ganz zu schweigen davon, dass die Täter in diesen Fällen oftmals Unbekannte sind. Mehr Polizeipräsenz bedeutet eben nicht gleich mehr Schutz.

Awareness-Konzepte? Nein danke, sagen die Veranstalter

Ein echtes Awareness-Konzept, wie es in den meisten Clubs heutzutage gibt, existiert auf dem Oktoberfest nicht - nur, warum eigentlich nicht? Die Aktion "Sichere Wiesn für Mädchen und Frauen" bietet immerhin seit Jahren einen sogenannten Safe Space hinter dem Schottenhamel-Zelt. Dort bekommen Frauen und Mädchen Hilfe, wenn sie bedrängt, orientierungslos oder bedroht sind. Das Problem: Dafür müssen sich die Betroffenen erst einmal aus der Situation entfernen können. Zudem ist das Gelände nicht gerade klein, was den Weg zum Safe Space selbst zur Gefahr macht.

Okay, also warum dann nicht ein Awareness-Team einrichten? Ein Beispielkonzept gibt es bereits in Erfurt. Dort laufen die "Nachteulen" in blauen Westen über das Gelände und leisten "seelische Erste Hilfe" wo immer es nötig ist, wie Projektleiter Karsten Melang dem MDR erklärt. Das Konzept ist gut und sinnvoll. Doch an einem Ort kommen die Mitglieder des Awareness-Teams nicht zum Einsatz: im Festzelt.

"Wir haben Securitys, wenn etwas sein sollte", winkt Ronny Schmidt, Betreiber des Festzelts ab. Es sei weder Platz noch Bedarf vorhanden. Dabei missverstehen Schmidt und Festzelt-Betreiber offenbar das Konzept grundlegend: Denn während sich die Security um Störenfriede kümmert, beschäftigt sich das Awareness-Team mit dem seelischen Wohl der Betroffenen.

Appell an die Festzelt-Betreiber: Macht es besser!

Jede Frau, jedes Mädchen, jeder Mensch hat das Recht, sich ohne Angst vor Übergriffen frei zu bewegen. Das gilt auch auf dem Oktoberfest - doch was nützt geltendes Recht, wenn es eine reine Illusion der Sicherheit ist? Auf die Polizei ist kein Verlass, ebenso wenig wie auf die Organisatoren. Doch gerade an diese stehen in der Verantwortung, endlich ihr Sicherheitskonzept zu verbessern - damit alle sich wohlfühlen und niemand sich fürchten muss. Das bedeutet eben auch, aus alten, kulturell verankerten Mustern auszubrechen - und dass mit Sprüchen wie "Jetzt hab dich nicht so" Schluss ist.

Mehr zum Oktoberfest in München finden können Sie in diesen Beiträgen erfahren:

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