Von news.de-Redakteur Timo Nowack - Uhr

Gedenken in Leipzig: Eine Glocke ist ein Ei ist eine Zeitform

In Gedenken an die friedliche Revolution 1989 ist in Leipzig eine sogenannte Freiheitsglocke eingeweiht worden. Oder besser gesagt: ein Freiheitsei. News.de hat die wunderliche Prozession beobachtet.

Turbel um die Eierglocke. (Foto) Suche
Turbel um die Eierglocke. Bild: news.de

Alle warten sie auf die Glocke. Die Freiheitsglocke, die Demokratieglocke. In zehn Reihen stehen die Zuschauer auf dem Leipziger Augustusplatz im Kreis und wollen einen Blick erhaschen auf die heilige Glocke. Doch die erste Reihe besetzen Kameramänner vom Fernsehen und versperren die Sicht. Deshalb sieht eigentlich niemand etwas, erst recht nicht die Glocke. Aber eigentlich macht das die Sache nur noch spannender.

«Vor 20 Jahren kamen hier um 18.35 Uhr die Demonstranten von der Nikolaikirche an, es wurde nicht geschossen», sagt eine Männerstimme per Mikrofon aus der Mitte des Kreises. «Hier begann das friedliche Ende der DDR», fährt die Stimme fort. «Die Glocke bedarf des Schutzes von uns allen, sie ist ein Ei, also der Beginn von etwas Großem.» Ein Ei? Eine Zuschauerin fängt an zu lachen.

Doch wir sind ja nicht zum Spaß hier. «Es geht ein Riss durch unsere Gesellschaft zwischen Tätern und Opfer von damals», sagt die Stimme. «Und die Täter haben es in 20 Jahren nicht vermocht, sich zu entschuldigen.» Nun soll die Glocke verhindern, dass Demokratie und Freiheit in Vergessenheit geraten - montags um 18.35 Uhr, freitags um 10.30 Uhr, um an den heutigen Einweihungstermin zu erinnern.

Dann tritt der Künstler ans Mikrofon, der die Glocke entworfen hat, Herr Lewandowski. «Mir ist die Idee im Traum erschienen», sagt er. «Im Zug von Leipzig nach Berlin.» In einer der hinteren Reihen guckt eine Fernsehfrau in brauner Lederjacke verunsichert nach vorne zu ihrem Kameramann. «Dreht er?» fragt sie einen Kollegen neben sich. «Ich glaube schon.» Nur nicht die Glocke aus den Augen verlieren, wenn man sie schon sehen kann!

Der Leipziger Oberbürgermeister ist ein großer Mann, der über die Kameras hinweg zu sehen ist. Er schaut auf die Uhr: 10:28 Uhr. «Noch zwei Minuten.» Dann soll die Glocke zum ersten Mal erklingen. Alle rücken etwas enger zusammen, recken die Hälse nach oben und für einen kurzen Moment ist etwas golden Glänzendes zu sehen - bis die Männer vom Fernsehen ihre Kameras noch weiter in die Höhe strecken und die Tonleute ihre Puschelmikrofone.

10:29 Uhr. «Die Glocke muss bestimmt immer bewacht werden», sagt eine Frau zu der Dame neben sich. «Es ist eine Generation aufgewachsen, die hat vor so etwas keinen Respekt mehr.» Und wieso, fragt ihre Nachbarin. «Weil sie rein konsumorientiert aufwächst im Kapitalismus.» 10:30 Uhr.

10:31 Uhr. 10:32 Uhr. 10:33 Uhr.

10:34 Uhr. Die Glocke schweigt noch immer. «Es muss ja jetzt etwas gesagt werden zu diesem Dilemma», sagt die Stimme vom Anfang. Das Computersystem, das die Glocke erklingen lassen sollte, sei wohl nicht in Ordnung. Der feierliche Einweihungsglockenklang fällt aus. Aber: «Meine Damen und Herrn, sie dürfen die Glocke nun berühren.»

Jetzt gibt es kein Halten mehr. Die Kameraleute treten zur Seite, nun wo die Premiere eh versaut ist. Und sie geben den Blick frei auf die Glocke: Sie glänzt golden in der Herbstsonne und sie ist - ein Ei. Ein großes goldiges Ei. 1,5 Tonnen schwer, von fünf oder sechs Arbeitern in drei Monaten hergestellt, sagt der Chef der Gießer. «Demokratie ist in unendlicher Nähe längst sichtbar als Kunst», steht auf dem Sockel.

Und dieses Meisterwerk will nun jeder einmal berühren, fotografieren, am besten beim Berühren fotografiert werden. Pressefotografen und -kameraleute lauern darauf, dass möglichst putzig oder gerührt aussehende alte Leute die Eierglocke befühlen, kurz daran klopfen. Ein junges Mädchen, das gerade vorbeikommt, sagt zu ihrer Freundin: «Guck mal, wenn du ins Fernsehen willst, stellst du dich einfach dahin.»

Künstler Lewandowski gibt derweil längst Fernsehinterviews. Das Ei sei eine Metapher für das, was Demokratie bedeute, sagte er. Aber eigentlich sei es gar kein Ei. «Ich nenne die Arbeit eine Zeitform.»

krm/news.de

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