Von news.de-Redakteurin Claudia Arthen - Uhr

Suizid und Gene: Der Freitod als fatales Erbe?

Warum sich Menschen umbringen, beschäftigt die Wissenschaft schon lange. Auch die Frage, warum Freitode in manchen Familien gehäuft auftreten. Bestimmen etwa die Gene, ob jemand Hand an sich legt? Immer mehr Studien scheinen diese Annahme zu untermauern.

Ernest Hemingway nahm sich 1961 das Leben. Selbstmord begingen vier weitere Familienmitglieder des Schriftstellers. (Foto) Suche
Ernest Hemingway nahm sich 1961 das Leben. Selbstmord begingen vier weitere Familienmitglieder des Schriftstellers. Bild: dpa

Literaturnobelpreisträger Ernest Hemingway schoss sich im Juli 1961 mit einer Schrotflinte in den Kopf. Der amerikanische Schriftsteller hatte jahrelang unter Alkoholsucht und schweren Depressionen gelitten.

Er reiht sich mit dieser Tat in einedüstere Familientradition ein: Schon sein Vater hatte sich 1928 erschossen, seine Schwester Ursula starb 1966 an einer Überdosis Schlafmittel, sein Bruder Leicester erschoss sich 1982, und Enkelin, Schauspielerin und Model Margaux Hemingway, setzte 1996 ihrem Leben mit Beruhigungstabletten ein Ende.

US-Medien munkelten von einem «Hemingway-Fluch». Dabei häufen sich Freitode in zahlreichen Familien, wie der Psychiater Dan Rujescu von der Universitätsklinik München im Gespräch mit der Zeitschrift Gehirn & Geist sagt. Suizidgefährdete Patienten berichten demnach oft, dass es bereits mehrere solcher Taten in ihren Familien gab, berichtet Rujescu aus seiner beruflichen Erfahrung.

Die Eltern als fatales Risikodemna

Das bestätigen laut der Zeitschrift gleich mehrere Studien. Demnach haben Angehörige von Selbstmördern ebenfalls ein größeres Suizidrisiko. Mehr als 20 Untersuchungen wurden im Jahr 2004 von Ross Baldessarini und John Hennen von der Harvard University in Boston zusammengefasst. Das Fazit der beiden Wissenschaftler: Alles spreche für eine familiär bedingte Suizidneigung. Die Verwandten von Freitodopfern hätten ein fünffach höheres Risiko, sich ebenfalls umzubringen, als der Durchschnittsbürger.

Wieso kommt es zu dieser auffälligen Häufung von Suiziden in einzelnen Familien? Dienen die Eltern ihren Nachkommen als fatales Rollenvorbild? Oder liegt es an widrigen Lebensumständen, die miteinander Verwandte gleichermaßen betreffen? Oder wird das Suizidrisiko indirekt weitergegeben – etwa über eine Veranlagung zu psychischen Störungen. Immerhin stellen Seelenleiden den stärksten Risikofaktor für Selbstmorde dar. Neun von zehn Menschen, die sich das Leben nehmen, waren zu diesem Zeitpunkt psychisch krank.

Depressionen stehen dabei an erste Stelle, gefolgt von Angststörungen und Substanzabhängigkeit wie Alkohol- und Tablettensucht. Vielen Medizinern gilt Suizid sogar als mögliche «Komplikation» bei allen bekannten psychischen Errkankungen. Und diese sind eben auch zu einem gewissen Grad erblich: Die Kinder von depressiven Patienten haben ein doppelt so hohes Risiko, an der Gefühlsstörung zu erkranken, wie der Nachwuchs anderer Eltern.

Wissenschaftler haben seit einiger Zeit eine weitere Annahme im Visier: «Demnach ist die Suizidneigung manchem buchstäblich in die Wiege gelegt», sagt der Psychiater laut Gehirn & Geist.  Die Forscher machen dafür sogenannte Suizid-Gene verantwortlich. Laut Rujescu kann man aber nicht einfach sagen, die Gene lösen suizidales Verhalten aus. Eine Art Selbstmordprogramm, das im Erbgut schlummert und sich irgendwann unweigerlich von selbst abspult, gibt es nicht. «Aber es gibt einen genetischen Anteil wie bei vielen anderen Verhaltensweisen auch», so der Experte.

Welche Hinweise die Forscher bei den Amish People fanden

Ein ungewöhnliches Studienobjekt liefert dazu neue Hinweise: die christliche Religionsgemeinschaft der Amish People in Nordamerika, die für ihren strikt traditionellen Lebensstil bekannt sind. Die besonders Konservativen unter ihnen lehnen nicht nur technische Errungenschaften wie Elektrizität oder Autos ab, sie verbieten auch das Heiraten außerhalb ihrer Gemeinschaft. Das macht sie für Psychogenetiker besonders inmteressant, denn ihre Familienstammbäume sind überschaubar.

Wie die Zeitschrift Gehirn & Geist berichtet, stießen Wissenschaftler bei den Amischen auf einige Linien mit vielen manisch-depressiven Erkrankungen – ein starker Risikofaktor für Selbstmorde. Trotzdem hatten sich in den meisten Familien nur vereinzelt Mitglieder das Leben genommen. Lediglich in wenigen Stammbäumen waren tatsächlich auch viele Suizide begangen worden. «Da Umweltbedingungen und Wertesystem innerhalb der Gemeinschaft für alle sehr ähnlich waren – unter anderem lehnen alle Amischen den Selbstmord als Sünde ab, deuten diese Ausnahmen auf voneinander getretennte Faktoren hin», so Gehirn & Geist. Es lasse darauf schließen, dass hier speziell das selbstmörderische Verhalten vererbt worden sein könnte.

Nach Dan Rujescu erhöht sich die Suizidgefahr auf ungefähr das 1,3-Fache, wenn jemand ungünstige Erbanlagen besitzt. Er veröffentlichte 2007 eine Übersichtsarbeit, in der er eigene Studien und die von Kollegen zusammenfasste. Sie deuten auf Unterschiede in jenen Erbanlagen hin, die mit einem bestimmten Hirnbotenstoff zusammenhängen: Serotonin. Das landläufig als Glückshormon bekannte Molekül ist nicht nur an der Stimmungsregulation im Gehirn beteiligt, sondern auch an der Steuerung von Appetit, Müdigkeit und Lernen.

Der Schlüssel liegt möglichweise im Serotoninmangel

Möglicherweise liegt hier der Schlüssel zur Vererbung der Suizidneigung. Laut einigen Studien gibt es einen Zusammenhang zwischem einem niedrigen Serotoninspiegel und besonders aggressiven Suizidmethoden. Selbstmörder weisen im Frontalhirn eine sehr niedrige Konzentration dieses Botenstoffs auf. Dort bewirkt Serotonin normalerweise so, dass Handlungspläne kontrolliert werden. «Ein gestörter Serotoninhaushalt könnte zu unüberlegtem, impulsivem Verhalten führen, aber auch zu erhöhter Aggressivität», folgert Rujescu.

Bei der Suche nach jenen DNA-Abschnitten, die für den Serotoninmangel verantwortlich sein könnten, stießen Forscher unter anderem auf das TPH-Gen, das den Bauplan für das Enzym liefert, das bei der Seroninherstellung m Körper benötigt wird. Suizidopfer scheinen überdurchschnittlich oft eine Variante dieses Gens zu besitzen, die mit verringerter Konzentration des Botenstoffs im Frontalhirn einhergeht. Ein nah verwandtes Gen, das TPH2, könnte einen ähnlichen Einfluss haben, wie Forscher aus Montreal 2008 feststellten.

«Die bisherigen Erkenntnisse sprechen dafür, dass Selbstmörder offenbar einem spontanen, gegen sich selbst gerichteten Impuls folgen, den sie auch auf Grund eines erblichen Serotoninmangels nicht unterdrücken können», erklärt Rujescu. Laut einer 2008 veröffentlichen Untersuchung der Weltgesundheitsorganisation WHO ist eine «gestörte Impulskontrolle» der mit Abstand größte Risikofaktor für Suizide, wenn der Gedanke daran einmal aufkam. Dies ist bei vielen Depressiven der Fall, doch erst die impulsiv-aggressive Neigung gibt den Ausschlag, ob es tatsächlich zur Tat kommt - so das Ergebnis der in 17 Ländern durchgeführten WHO-Studie.

Aber den Angehörgen von Suizidofpern droht kein unausweichliches Schicksal – ihre Lebensumstände spielen auch eine große Rolle. Das spiegelt unter anderem eine Studie eines kanadischen Forscherteams wider. Die Wissenschaftler interessierten sich für die EpigenetikDie Epigenetik geht davon aus, dass Gene nicht starr sind, sondern ein Leben lang formbar. von Suizidopfern: Sie suchten nicht nach Unterschieden in der DNA selbst, sondern wollten wissen, ob bei ihnen dieselbe genetische Information möglicherweise anders umgesetzt wird.

Sie wiesen an den Gehirnen von 18 Selbstmördern nach, dass die Eiweißsynthese bei den Verstorbenen in bestimmten Regionen gestört war. Ihre Vermutung, wie es dazu kam: Alle untersuchten Personen waren als Kind sexuell missbraucht oder schwer vernachlässigt worden. «Möglicherweise entstehen epigenetische Veränderungen aus schädlichen Erfahrungen, die in der Kindheit auf das Gehirn einwirken», sagt der Studienleiter Gustavo Turecki. Traumata erhöhen das Suizidrisiko bekanntermaßen; die gestörte Synthese von Proteinen sei ein möglicher Vermittler dieses Effekts.

Hätte auch Ernest Hemingway dem Fluch seiner Familie entgehen können? Der Autor galt als sehr impulsiver Charakter, viele ungünstige Umstände führten zu seinem Freitod: der Hang zum Akohol und schwere Depessionen. Behandelt wurde er, wie damals üblich, mit Elektroschocks. Er klagte, dass die Stromstöße sein Gedächtnis zuerstörten, weshalb er nicht mehr arbeiten könne. Das deprimierte ihn noch mehr. Zudem lebte er in einem Land, in dem der Zugang zu Schusswaffen bis heute wenig reglemtiert ist - ein weiterer wichtiger Risikofaktor für Suizide.

 

mas/news.de

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