Von news.de-Volontärin Annika Einsle - Uhr

Gewalt von Eltern: Ins Leben geprügelt

Sie haben den Kochlöffel genommen, den Teppichklopfer oder was sie sonst zu greifen bekamen: Generationen von Eltern haben ihre Kinder ganz selbstverständlich verprügelt. Die Situation ist heute eine andere - doch die Schläge sind geblieben.

Wenn Eltern ihre Kinder prügeln: Bis in die 1970er Jahre schlugen Eltern zu, wenn die Kinder nicht parierten. Die Nachwirkungen sind bis heute spürbar. (Foto) Suche
Wenn Eltern ihre Kinder prügeln: Bis in die 1970er Jahre schlugen Eltern zu, wenn die Kinder nicht parierten. Die Nachwirkungen sind bis heute spürbar. Bild: dapd

«Früher haben die Kleinen noch pariert», heißt es heute oft, wenn Eltern mit ihren brüllenden Kindern im Café überfordert sind. Die schmeißen sich vor Wut auf den Boden, weil sie den Spielplatz noch nicht verlassen wollen oder den Schokoriegel im Supermarkt nicht bekommen.

Früher war es den Eltern aber auch gesetzlich erlaubt, «kraft des Erziehungsrechts angemessene Zuchtmittel gegen das Kind» anzuwenden. Prügel waren an der Tagesordnung. Nur gesprochen haben die Opfer nie darüber.

Die Journalistin und Autorin Ingrid Müller-Münch deckt nun in ihrem Buch Die geprügelte Generation erstmals das Ausmaß der Gewalt auf und lässt die Leidensgenossen zu Wort kommen. Im Interview mit news.de spricht sie über die Folgen dieser familiären Dramen und erklärt, warum Eltern auch heute noch zuschlagen.

Lange Zeit wurde darüber geschwiegen, dass Eltern in den 1950er und 1960er Jahren zu Teppichklopfer, Rohrstock und Kleiderbügel griffen, um ihre Kinder zur Räson zu bringen. Wieso hat nie jemand ausgesprochen, was damals passiert ist?

Ingrid Müller-Münch: Es sollte eine gewisse Fassade aufrecht erhalten werden, der Eindruck entstehen, man sei eine harmonische Familie. Außerdem war das Prügeln von Kindern in den Familien damals so normal, dass es einfach nicht der Rede wert war, es überhaupt zu erwähnen. Obwohl eigentlich jeder wusste, was hinter verschlossenen Türen los war. Mit meinem Buch habe ich nicht die Welt neu erfunden, ich habe nur ausgesprochen, worüber bisher geschwiegen wurde.

In Die geprügelte Generation erzählen Sie die Schicksale verschiedener misshandelter Kinder sehr anschaulich. Wie ist es Ihnen gelungen, dass sich Ihre Gesprächspartner so öffnen?

Müller-Münch: Ich glaube, sie spürten, dass ihnen jemand gegenüber sitzt, der weiß, wovon die Rede ist. Auch ich gehöre zu der Generation, die in den 1950er und 1960er Jahren aufgewachsen ist, und auch ich kenne die Prügel, die damals dazu gehörten.

Per Gesetz wurde dem Vater früher zugestanden, «kraft des Erziehungsrechts angemessene Zuchtmittel gegen das Kind» anzuwenden (§1631, Abs. 2 BGB, gültig von 1896 bis 1958). Welche Rolle spielte die Mutter bei der Erziehung?

Müller-Münch: Die Mutter hatte eine ganz wichtige Rolle. Entweder schlug sie selber oder sie berichtete dem Vater, wenn er am Abend von der Arbeit kam. «Das Kind hat Widerworte gegeben, das Kind war böse, es hat nicht gehorcht», sagte sie, und dann hat der Vater dem Kind den Hintern versohlt. Ich habe keinen einzigen Fall kennengelernt, wo die Mutter dazwischen gegangen ist oder dagegen war, wenn der Vater zuschlug. Offenbar war man sich damals einig, dass zur Erziehung der Kinder die Prügel dazugehörten. Aber es gab auch damals Familien, in denen nicht geschlagen wurde, das darf man nicht vergessen.

In der ehemaligen DDR wurden Körperstrafen in der Schule bereits 1949 gesetzlich verboten, in der damaligen BRD erst mehr als 20 Jahre später. Heißt das, dass es den Kindern im Osten besser ging?

Müller-Münch: Inzwischen ist bekannt, dass auch in DDR-Heimen geprügelt wurde. In den Familien schien das weniger der Fall gewesen zu sein, vermutlich, weil die Kinder viel im Kindergarten waren. Kurz nach dem Fall der Mauer habe ich in Berlin zwei ostdeutsche Kindergärten besucht und erlebt, welche Zucht und Ordnung dort herrschten, mit welcher Ausgrenzung alle Abweichler bestraft wurden und wie kollektiv die Kinder auf Einheitskurs getrimmt wurden. Die Kinder wurden zwar nicht geschlagen, aber es gab eine andere Form von Druck, ja fast schon Drill, und zwar zu einer Zeit, in der es in Westdeutschland längst eine ganz neue Form der Pädagogik gab. Das fand ich ähnlich schrecklich.

Sie haben mit Experten gesprochen, die sagen, Eltern hätten damals beim Prügeln ihrer Kinder ihre eigenen schlimmen Kriegserfahrungen verarbeitet. Aber nicht alle Eltern waren im Krieg, und auch heute schlagen sie zu. Warum prügeln Eltern?

Müller-Münch: Damals gehörte das Prügeln zum Erziehungskonzept, heute geschieht es im Exzess, weil die Eltern überfordert, alkoholkrank, drogenabhängig sind oder unter psychischem Stress stehen. Damals hörte die Nachbarschaft mit Sicherheit die Schreie und das Wehklagen der Kinder, reagierte aber nicht drauf, weil es ganz normal war. Wer heute zuschlägt, muss damit rechnen, dass der Nachbar ihn anzeigt, dass ihn in der Öffentlichkeit jemand darauf anspricht oder dass das Kind zum Jugendamt geht.

Wie kam es zu diesem Wandel?

Müller-Münch: Er wurde durch die Generation der heute über 50-Jährigen ehemals geprügelten Kinder herbeigeführt. Die 1968er haben sich gewehrt, mehr oder weniger mit ihren Eltern abgerechnet und dann versucht, einen neuen Ansatz zu finden. Die Rohrstöcke wurden zerbrochen und die Kochlöffel in die Schublade zurückgesteckt, wo sie auch hingehörten.

«Gewalt erzeugt nicht immer Gegengewalt», schreiben Sie in Ihrem Buch. Laufen die misshandelten Kinder von früher dennoch stärker Gefahr, selbst einmal zu prügelnden Eltern zu werden?

Müller-Münch: Ja. Laut einer Unicef-Studie aus dem Jahr 2009 neigen geprügelte Kinder später häufig zu Risikoverhalten, also zu Alkohol- und Drogenkonsum, zu Wahnvorstellungen, Depressionen und Aggressionen. Jugendliche, die mit Gewalt erzogen wurden, zeigen dreimal häufiger als andere eigene Gewaltaktivität.

Was hat Ihnen geholfen, Ihre Erlebnisse zu verarbeiten und es letztlich besser zu machen?

Müller-Münch: Als ich mich entschlossen habe, Mutter zu werden, habe ich eine Therapie begonnen, weil ich die Worte der Schweizer Therapeutin Alice Miller im Ohr hatte, die sagte, «Geprügelte Kinder prügeln auch ihre Kinder». Diesen Automatismus wollte ich durchbrechen. Außerdem habe ich mit meinem Sohn noch einmal eine wunderbare Kindheit erlebt. Die habe ich genossen. Das hat mir geholfen.

Wie schafft man es, nach solchen Erfahrungen den Eltern zu verzeihen?

Müller-Münch: Das gelingt nicht jedem. Viele dieser geprügelten Kinder haben mit den Eltern gebrochen. Andere sich arrangiert, eine Beziehung auf Distanz zu ihnen aufgebaut. Schwierig wird es besonders dann, wenn die Eltern von ihrem Griff zum Kochlöffel oder Rohrstock nichts mehr wissen wollen, dies leugnen. Dann ist der Weg zu einer Versöhnung eigentlich versperrt.

Laut Unicef sterben weltweit jährlich 50.000 Kinder an Gewalt und Missbrauch. Was läuft falsch im Kinderschutz?

Müller-Münch: Viele dieser Kinder kommen aus Dritte-Welt-Ländern oder aus Ländern, in denen das Prügeln bisher nicht verboten ist. Aber selbst in Ländern, in denen es verboten ist - wie Deutschland - sterben zwei Kinder in der Woche durch die Hand ihrer Eltern. In Frankreich sind es sogar drei. Eine konservative Abgeordnete hat dort kürzlich einen Gesetzesentwurf eingebracht, der besagt, dass Kinder nicht mehr geschlagen werden dürfen, wie das in Deutschland seit 2000 der Fall ist. Aber sie wurde dafür regelrecht ausgelacht.

Trotz Gesetz wird auch in Deutschland weitergeprügelt. Was müssen wir tun, um das zu verhindern?

Müller-Münch: Wir brauchen eine größere Aufklärung. Es gibt noch viel zu viele Leute in diesem Land, die nicht wissen, dass das Prügeln gesetzlich verboten ist. Und die Jugendämter müssen aufmerksamer sein, das können sie aber nur mit mehr und mit gut ausgebildetem Personal. Außerdem sollte man schon von klein auf im Kindergarten wachsam sein. Es muss noch viel getan werden.

iwi/news.de

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