Von news.de-Mitarbeiterin Denise Peikert - Uhr

Schule in der DDR: «Widerspruch wurde nicht toleriert»

In der DDR war sie selbst Lehrerin, jetzt ist sie Leiterin des Schulmuseums Leipzig: Elke Urban spricht mit news.de über Fahnenappell, ideologische Erziehung und darüber, was passierte, wenn Schüler dem vermittelten Weltbild widersprachen.

Eine nachgestellte DDR-Schulstunde im Schulmuseum Leipzig. (Foto) Suche
Eine nachgestellte DDR-Schulstunde im Schulmuseum Leipzig. Bild: ddp

Wer heute Filme über Schule in der DDR sieht, sieht die roten und blauen Halstücher der Pioniere und hört vom FahnenappellEine formell an das gleichnamige Militärritual angelehnte Veranstaltung an DDR-Schulen, welche mehrmals im Jahr zu besonderen Anlässen, zum Beispiel dem ersten und letzten Schultag, stattfand. Dabei versammelten sich Lehrer und Schüler auf dem Schulhof, in der Aula oder in der Turnhalle zu einer Zeremonie. Die Zeremonie folgte militärischen Regeln. So wurde ein- bzw. ausmarschiert und Kommandos wie «Augen geradeaus», «Links rum» oder «Still gestanden» verwendet. . Welche Rolle haben politisch-ideologische Elemente im Schulalltag tatsächlich gespielt?

Urban: Der Fahnenappell war tatsächlich typisch für den Schulalltag. Er wurde jedoch sehr unterschiedlich eingesetzt: Es gab Schulen, da fand so ein Appell nur zweimal im Jahr statt. Und es gab durchgeknallte Schulleiter, die jeden Montag einen durchgeführt haben. Typisch für jede Diktatur und Teil der ideologischen Beeinflussung in der DDR war auch, dass Herrscherbilder im Klassenzimmer hingen. Das musste nicht unbedingt immer der Staatsratsvorsitzende sein, es reichte auch ein Mitglied des Politbüros.

Es heißt, selbst in Sachaufgaben in Mathematikbüchern spielte der Sozialismus eine Rolle. In welchem Verhältnis standen Wissensvermittlung und politisch-ideologische Erziehung tatsächlich?

Urban: Der Auftrag, die Kinder ideologisch zu erziehen, hat sich mehr oder weniger durch alle Fächer gezogen. Insgesamt wurden darauf etwa 20 bis 30 Prozent der Unterrichtsarbeit verwendet. Dazu gehörte das Fach Wehrkunde, das 1978 eingeführt wurde, die Arbeit an den Nachmittagen in AGs, bei Pioniertreffen und FDJ-Guppenstunden. Und da gehörten auch die Kampflieder dazu, die im Musikunterricht gesungen wurden. Oder der Fahnenappell. Oder das Handgranatenweitwerfen im Sportunterricht. Die größte Rolle spielte Ideologie natürlich in Staatsbürgerkunde, in Deutsch und Geschichte, am wenigsten in den Naturwissenschaften. Da hätte man nach 1989 relativ unbeschadet weitermachen können, vielleicht sogar mit den gleichen Schulbüchern, die systematisch sehr gut aufgebaut waren und in denen man lange nach Feindbildern suchen musste.

Wie haben Lehrer auf inhaltliche Gegenrede von Schülern reagiert, gerade in solchen Fächern wie Geschichte und Staatsbürgerkunde?

Urban: Diese Zwischenrufe hat es nicht gegeben. Und wenn, dann nur einmal – und nie wieder. Da hatten Lehrer in der DDR-Schule so viel Macht, dass sie das ein für allemal unterbinden konnten. Es gab in der DDR wenn überhaupt sicher nur eine Handvoll Lehrer, die diesen Widerspruch herausgefordert haben. So hat es nach dem Ende der DDR unter den Lehrern zu großen Irritationen geführt, als zum Beispiel im Deutschunterricht die Schüler zu einer eigenen Meinung aufgefordert werden sollten und nicht nur eine einzige vorgegebene Interpretation als richtig galt. Gegenrede auszuhalten und andere Meinungen zu akzeptieren – das haben die Menschen in der DDR nicht gelernt. Und das ist auch die Schuld der DDR-Schule.

Das heißt, es gab gar keinen Widerstand gegen das System der Schule der DDR?

Urban: Ich suche gerade händeringend nach den Widerständlern. Uns sind inzwischen einige Fälle bekannt, die mit Schulverweisung geahndet wurden oder sogar mit Einweisung in die Psychatrie. Das sind aber sehr spektakuläre Einzelfälle. Jenseits davon gab es sicher diese kleinen Momente des Mutes. So hat zum Beispiel ein Musiklehrer die christlichen Strophen des Liedes Der Mond ist aufgegangen singen lassen. Die standen nicht im DDR-Musikbuch, es stand aber auch nicht da, dass sie verboten waren. Da waren einige Lehrer im Kleinen sehr trickreich.

Geschichtslehrer mussten in der DDR über viele historische Wahrheiten schweigen. Wie ging es denen dabei?

Urban: Wer in der DDR Geschichtslehrer werden wollte, der musste wissen, dass es dabei um Bekenntnisse geht, um Gut und Böse, um Klassenkampf. Im Unterricht gab es keine Quellenarbeit, keine Differenzierung. Und die Leute, die das dennoch gegen ihre innere Überzeugung so studiert haben, weil sie einfach an Geschichte interessiert waren, kann ich nur bewundern. Allerdings waren die Geschichtslehrer, die keine überzeugten Genossen waren, auch die Minderheit.

Sie waren selbst Lehrerin in der DDR, haben den Beruf aber nur kurz ausüben können. Was war das größte Problem am Lehrersein in der DDR?

Urban: Wenn die Lehrer von den Kriegstreibern in der BRD, den USA und Israel sprachen und der Schüler dann sagt: «Meine Oma in der BRD ist bestimmt kein Kriegstreiber, sondern schickt mir immer Schokolade, die viel besser schmeckt als hier» - dann hatte der Lehrer ein Problem, musste klug argumentieren und mit der Oma vielleicht eine Ausnahme machen. Wer weiter Lehrer bleiben wollte, musste sich immer mal wieder fragen, ob er das jetzt noch mitmacht. Immer wieder gab es Bekenntnisse, die unterschrieben werden mussten. Zum Beispiel, dass man die «Maßnahmen des 13. Augusts 1961» – heute sagen wir dazu Mauerbau, wie es damals nicht heißen durfte – gut finde. Ich glaube kaum, dass es da viele in der DDR gab, die das gut fanden. Das wurde als Bekenntnis abverlangt, auch von Studenten. Wer das nicht unterschrieben hat, der flog. Toleranz mit Leuten, die widersprochen haben, kannte der Staat nicht.

Welche Rolle spielte Leistung im Vergleich zu anderen Aspekten wie der Parteizugehörigkeit der Eltern, wenn man als Schüler vorankommen wollte?

Urban: Bis in die 1960er Jahre spielte der Beruf der Eltern eine Rolle, da wurden besonders die Arbeiter- und Bauernkinder bevorzugt und die aus bürgerlichen Elternhäusern benachteiligt. Das heißt, der Sohn eines Arztes konnte nicht Arzt werden – auch wenn es gelegentlich Ausnahmen gab. Parteigenossen hatten eine Sonderstellung und konnten oft auch studieren, wenn sie aus Akademiker-Familien kamen. Ab etwa 1970 galt, dass derjenige auf die Erweitere Oberschule (EOS) kam, der gute Zensuren hatte, also ein sehr guter Leistungsdurchschnitt spielte schon eine Rolle. Aber zusätzlich sollte im Zeugnis möglichst vermerkt sein, dass jemand «gesellschaftlich aktiv» war.

Womit wurde man «gesellschaftlich aktiv»?

Urban: Am besten durch Mitarbeit im GruppenratDie Pioniere einer Schulklasse bildeten eine Pioniergruppe und wählten einen Gruppenrat. Der Gruppenratsvorsitzende (vergleichbar mit einem Klassensprecher) arbeitete mit den Lehrern zusammen. . Das heißt, man musste auf jeden Fall Pionier sein, um überhaupt in den Gruppenrat zu kommen. Der Nicht-Pionier hatte eigentlich keine Chance, auf die EOS zu kommen, auch wenn er nur Einsen hatte. Dennoch gab es einige Nicht-Pioniere und Nicht-FDJler auf der EOS. Das waren die Vorzeige-Exoten, die Margot Honecker, damals Ministerin der Volksbildung der DDR, brauchte, um auf Fragen von ausländischen Journalisten regieren zu können. Wenn es hieß: «Warum dürfen denn Pfarrerskinder nicht studieren?», dann zog sie einen Zettel aus der Tasche und sagte: «Wieso denn? Der Pfarrersohn Soundso und die Pfarrerstochter Soundso darf schließlich studieren. Alle anderen, die das behaupten, wollen nicht studieren.» Aber Fakt ist – und das gibt Margot Honecker inzwischen selbst zu –, dass gerade Pfarrerskinder systematisch benachteiligt wurden.

Waren diese «Vorzeige-Exoten» auf der EOS ausgeschlossen? Hat ihre Herkunft unter den Schülern selbst eine Rolle gespielt?

Urban: Ich bin gerade dabei, über Zeitzeugen herauszufinden, wie vielen Nicht-Pionieren es wirklich schlecht ergangen ist. Sicherlich waren die bei Veranstaltungen wie dem Fahnenappell ausgeschlossen, aber es haben bestimmt nicht alle Lehrer das böse Spiel mitgespielt und auf denen herumgehackt. Es gibt natürlich die, denen die Schulzeit in traumatischer Erinnerung ist und denen alle Berufschancen verbaut wurden. Aber ich weiß von vielen Lehrern, die zumindest in der Grundschule den Nicht-Pionieren freigestellt haben, zu den Pioniernachmittagen zu kommen. Zum Beispiel, wenn nichts Politisches auf dem Plan stand, sondern nur Basteln für die Weihnachtsfeier. Das finde ich eine wunderbare Sache, damit umzugehen, und das sind Handlungspielräume, die jeder Lehrer in der DDR hatte. Aber nicht jeder hat sie genutzt.

Sie sprechen von Nicht-Pionieren. Gab es denn überhaupt die Möglichkeit, in der DDR-Schule nicht Pionier zu werden?

Urban: Ja, klar. Die Eltern mussten nur einfach in der ersten Klasse nicht unterschreiben. Da sorgte natürlich für großes Erstaunen, weil das die Ausnahme von der Regel war. Die Eltern wurden daraufhin mehrmals in die Schule eingeladen und mussten sich dafür verteidigen, warum sie denn ihr Kind zum Außenseiter machen würden. Und das war tatsächlich ein Problem: Eltern, die ihre Kinder nicht zu den Pionieren gelassen haben, machen sich heute zum Teil Vorwürfe und fragen sich, ob sie ihnen nicht mehr geschadet als genutzt haben mit dieser aufgezwungenen Märtyrer-Position.

Waren die Kinder stolz darauf, Jungpionier und später Thälmann-Pionier zu werden?

Urban: Ja. Meine Tochter ist nach ihrer Einschulung mit Halstuch auch stolz in den Kindergarten gelaufen, nur um zu zeigen: «Seht mal, ich bin schon Pionier!» Ich kann das sehr gut verstehen und zweifele eher, wenn heute jemand behauptet, dass er das alles schon von Anfang an total bescheuert gefunden habe.

Gab es zwischen JunpionierenPioniere der ersten bis dritten Schulklasse und Thälmann-PionierenPioniere der vierten bis siebten/achten Klasse eine Hierarchie?

Urban: Ja, die wurde auch ganz bewusst eingesetzt. Die Lehrer haben im Unterricht zu den Kleinen gesagt: «Die Thälmann-Pioniere haben schon Gesetze und nicht nur so lasche Gebote wie ihr. Bei denen geht es schon um was». Und es war auch ein Unterschied, ob ich Gruppenratsvorsitzender mit drei roten Balken oder mit zwei roten Balken war. Die Hierarchie war äußerlich erkennbar und die Lehrer haben das ganz bewusst ausgespielt und Privilegien verteilt. Zum Beispiel sollten Vorsitzende dafür sorgen, dass alle in der Klasse die Hausaufgaben gemacht haben.

Wie beurteilen Sie die heutige, oft auch verklärende Sicht auf die DDR-Schule?

Urban: Man lernt heute selten Leute kennen, die differenziert zu urteilen gelernt haben. Entweder sie verharmlosen die DDR in der Rückbesinnung pauschal oder sie verteufeln sie pauschal. Sie finden kaum Lehrer, die sich überhaupt damit auseinander gesetzt haben. Die mit den alten Büchern in der Hand nachgelesen haben: «Was habe ich denn überhaupt den Kindern beigebracht?»

Gibt es etwas, was Sie sich aus der DDR-Schule zurückwünschen?

Urban: Was nach der Wende wirklich schief gegangen ist, ist die Vermischung der Lehrer zwischen West und Ost. Hätte das besser geklappt, hätten die Lehrer aus der DDR gelernt, dass es noch etwas anderes als Frontalunterricht gibt. Und umgekehrt hätten die BRD-Lehrer vielleicht gesehen, wie sich ostdeutsche Lehrer Respekt bei den Schülern verschaffen, ohne dass es in den Schulen hier überall zugeht wie in den Kasernen.

iwi/reu/news.de

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