Von Kristina Pezzei, ap - Uhr

Akromegalie: Groß wie Goliath

Wahrscheinlich hatte David nur eine Chance gegen Goliath, weil die Medizin damals nicht so entwickelt war wie heute. Nach allem, was Ärzte heute wissen, litt Goliath an Akromegalie - einer seltenen, bis heute verbreiteten gutartigen Tumorerkrankung.

Xi Shun ist der der größte Mensch der Welt. (Foto) Suche
Xi Shun ist der der größte Mensch der Welt. Bild: dpa

Den Kiesel, den der kleine, behände Kämpfer David gegen den Kopf des Riesen schleuderte, konnte Goliath nicht sehen: Sein Gesichtsfeld war aufgrund der fortgeschrittenen Akromegalie eingeschränkt.

«Wer vor Beginn der Pubertät erkrankt, kann zum Riesen wachsen», bestätigt Reinhard Finke. Der Endokrinologe hat sich auf Akromegalie spezialisiert; in seine Berliner Praxis kommen drei bis vier neue Patienten jährlich. «Zwei waren bisher dabei, die 2,20 Meter groß wurden», sagt Finke. In Einzelfällen wachsen Erkrankte noch mehr - und das schon in jugendlichem Alter.

Die meisten Menschen befällt der Tumor indes, wenn sie ausgewachsen sind. Elke Feuerherd ist so ein Fall: Mit Anfang 30 wurden ihre Hände immer größer, selbst im Winter spannte die Haut. «Das macht einen erst einmal stutzig, wenn auch die Hüte nicht mehr passen, und die Füße die Schuhe sprengen», erzählt die quirlige und adrette Frau, die mit einer Körpergröße von gut 1,70 Meter in der Öffentlichkeit nicht hervorsticht.

Feuerherd befielen die typischen Symptome, wie Finke bestätigt. «Die erwachsenen Patienten sehen alle gleich aus, das erkennt der Erfahrene auf den ersten Blick», sagt der Mediziner. «Es wächst alles weiter, nur nicht mehr die Höhe - und sehr langsam, deswegen wird die Krankheit oft so spät erkannt.» Die Finger werden so groß, dass Eheringe nicht mehr passen, die Unterlippe wird wulstig, die Zunge wächst an. Auch die Zähne gehen auseinander, oft fallen sie aus, weil sie keinen Halt mehr finden.

Wie stehen die Heilungschancen vonAkromegalie

 

Im Prinzip könnten Ärzte zahlreicher Disziplinen den Tumor erkennen, Hinweise gibt es genug. Trotzdem dauert es bis zu acht Jahre, bis Erkrankte beim richtigen Arzt im Behandlungszimmer sitzen. Finke bedauert das, gehört die Krankheit doch zum Lehrplan im Medizinstudium. Womöglich tritt sie zu selten auf: Der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie zufolge leiden 3000 bis 6000 Menschen an Akromegalie. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein.

«In der Regel wird man von Pontius zu Pilatus geschickt», sagt auch Elke Feuerherd, die die Berliner Selbsthilfegruppe für Akromegalie-Erkrankte leitet. Sie selbst hatte Glück: Ihr Hausarzt hatte Jahre zuvor einen Patienten mit derselben Krankheit und erkannte die Symptome. Feuerherds Tumor war bereits so groß, dass sie unmittelbar auf eine Operation vorbereitet wurde. Nur durch eine solchen Eingriff ist es möglich, endgültig von der Krankheit geheilt zu werden, wenngleich die Behandlungsmöglichkeiten mit Medikamenten in den vergangenen Jahren immer besser geworden sind.

Der gutartige Tumor sitzt in einer kleinen Drüse unter dem Gehirn. Wird er zeitig erkannt, solange er kleiner als einen Zentimeter ist, stehen die Heilungschancen durch den operativen Eingriff laut Finke bei 80 Prozent. In dem Stadium entfernen die Ärzte den Tumor vollständig. In einer komplizierten Operation gelangen sie durch die Nase und die Siebbeinzellen bis an den Tumor, der ihnen nach Öffnung der Kapsel richtig entgegenquillt. Problematisch dabei: Direkt daneben verläuft die Hauptschlagader, die zum Gehirn führt. Funktioniert der Eingriff nicht, versuchen die Ärzte mit Medikamenten das Wachstum des Tumors einzudämmen.

Warum David den Riesen von seinem Leiden befreit hat

Finke misst in seiner Praxisgemeinschaft bei Neupatienten zunächst das Wachstumshormon und einen Insulin-ähnlichen Wachstumsfaktor; sind sie ungewöhnlich hoch, ist der 54-Jährige alarmiert und lässt weitere Tests folgen. Als Elke Feuerherd in seiner Praxis landete, war sie resigniert - die erste Operation war wenig erfolgreich, auch eine Chemotherapie hatte nicht das gewünschte Ergebnis gebracht. Inzwischen hat sie dank eines neuartigen US-Medikaments neuen Mut gefasst, ist seit Jahren stabil und bewältigt den Alltag weitgehend ohne Probleme.

«Ich habe ohnehin immer gearbeitet», sagt die Tischlermeisterin nicht ohne Stolz. Schlimmer als die körperlichen Strapazen bewertet sie die psychischen: Akromegalie ist keine Krankheit, die sofort ins Auge springt, zumindest nicht, wenn Erwachsene befallen werden. «Oft hieß es von Freunden, was hat sie denn, sie sieht doch aus wie das blühende Leben», erinnert sich Feuerherd. Besonders quälend sei das in der Zeit gewesen, als sie noch nicht wusste, was mit ihr los ist. Sie fühlte sich, wie viele andere Patienten, nicht ernst genommen.

Auf den ersten Blick sieht man der 43-Jährigen die Anstrengungen der letzten Jahre auch jetzt nicht an. Bei genauerem Hinsehen aber fallen die Finger auf, die dicker sind, als es der schlanken Figur entsprechen würde. Noch immer trägt Feuerherd Schuhe der Größe 42. «Die Zunge schrumpft zwar, die Haut wird dünner. Aber die Knochen bleiben, wie sie sind», erklärt Finke.

Wird eine Akromegalie nicht behandelt, sterben Erkrankte in der Regel an Diabetesfolgen oder Herzschwäche: Nach 20 bis 30 Jahren ist ihr Herz nicht mehr kräftig genug. Letztlich also hat David den Riesen von seinem Leiden befreit - ein paar Jahre später wäre Goliath ohnehin gestorben.

/news.de

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